Kindertransport
Nach der Machtergreifung Hitlers und der zunehmenden Diskriminierung und Bedrohung der Juden in Deutschland, wurden viele jüdische Kinder mit Hilfe der sogenannten Kindertransporte nach England gebracht. Der Boykott jüdischer Geschäfte und die Nürnberger Rassegesetze waren der Anfang der Entrechtung der Juden. Als die Nationalsozialisten Österreich und das Sudetenland annektierten, weitete sich das Problem auch auf die Juden dieser Länder aus. Viele jüdische Kinder traf diese Situation hart. Die Nürnberger Gesetze verboten ihnen den Zugang zu Theatern Schwimmbädern und zu vielen Schulen. Jedoch waren die Einwanderungsbestimmungen vieler Länder so streng, dass die Juden in Deutschland bleiben mussten.
Anlass der Lockerung dieser Bestimmungen in England war die „Reichspogromnacht“ am 9. November 1938. Es durften nun jüdische Kinder zwischen 14 und 17 Jahren einwandern, sofern ein Förderer für sie gefunden wurde. Die deutsche Regierung gestattete diese Emigration jedoch nur unter bestimmten Auflagen. Die Kinder durften nur einen Koffer, eine Tasche und 10 Reichsmark mitnehmen. Jedes Kind bekam eine Nummer, die es behalten musste. Sie fuhren dann mit dem Zug von ihren Heimatbahnhöfen über Holland nach Harwich. Dort bekamen sie einen Erwachsenen als Begleiter, der sie in ihren zukünftigen Heimen ablieferte. Jedoch gab es mehr Flüchtlingskinder als zur Verfügung stehende Plätze. Somit kamen die Kinder in Flüchtlingsheime. Hier wurden sie an ihre neuen Eltern weitervermittelt oder in eine Art Kinderheim gebracht. Als jedoch der Krieg begann, wollte keiner mehr die Flüchtlingskinder haben. Sie wurden mit Schiffen in Internierungslager nach Australien gebracht. Doch als die Nachrichten der Massendeportationen der Juden in England ankamen, gab es ein erneutes Umdenken. Die Gefangenen konnten entweder dableiben oder in die Armee eintreten und nach England zurückkehren.
Es wurden ca. 10 000 Kinder am Vorabend des Zweiten Weltkrieges nach England geschafft. Unzählige solcher Transporte retteten sie aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei. Der erste der Transporte kam an 2. Dezember 1938 in Harwich an. Er brachte 196 Kinder aus Berlin. Das offizielle Ende der Kindertransporte war am 1. September 1939, jenem Tag, an dem der deutsche Angriff auf Polen erfolgte. Der letzte bekannte Kindertransport jedoch war der Frachter Bodegraven aus Holland, der 80 Kindern das Leben rettete. Er verließ Holland, begleitet von deutschem Maschinengewehrfeuer, am 14. Mai 1940. Unterstützt wurden diese Transporte durch zahlreiche Organisationen und Einzelpersonen. Hervorzuheben sind Lord Gorell, die Bewegung für Flüchtlingskinder, welche vom Erzbischof von Canterbury unterstützt wurde, zahlreiche Jugendbewegungen, die Gesellschaft der Freunde und viele weitere jüdische und nichtjüdische Organisationen. Sie halfen hauptsächlich durch Geldgeschenke, Bettwäsche, Kleidung, sowie Pflegehäuser und Gruppenhäuser.
Die Kinder wurden in ihren Heimatländern durch Emigrationsabteilungen der jeweiligen zentralen Organisationen der Juden und durch sogenannte Vorwähler ausgewählt. Diese standen mit London in Kontakt und koordinierten den Transport. Wenn die Kinder schließlich in England ankamen, wurden sie im ganzen Land verteilt. Sie kamen zuerst in Aufnahmelager und Hotels, später jedoch in Pflegehäuser, Bauernhöfe und Gruppenhäuser. Die Kinder, die Glück mir ihren Förderern hatten, wurden aufs Internat geschickt. Später arbeiteten sie, nach einigen Trainingswochen, in der Landwirtschaft oder im inländischen Dienst. Viele von diesen Kindern wurden britische Staatsbürger und dienten für England im Zweiten Weltkrieg. Andere wanderten nach Amerika und später nach Israel aus. Auf Grund des guten englischen Schulsystems wurden die meisten dieser Kinder Ärzte, Anwälte oder Wissenschaftler.
Foto: artwork: w:de:Frank Meisler ; picture: user:Concord / CC BY-SA
Der Regisseur Mark Jonathan Harris dokumentierte die Geschichte der Kindertransporte anhand zahlreicher Einzelschicksale. Die Schicksale vieler jüdischer Kinder verliefen ähnlich. Anhand der Biographien von Kurt Fuchel und Ursula Rosenfeld wird dies sehr deutlich. Beide erlebten bis zur Machtergreifung Hitlers eine behütete Kindheit. Danach änderte sich jedoch alles. Die deutschen Kinder weigerten sich mit den jüdischen Kindern zu spielen. Ursula Rosenfeld merkte dies deutlich, als niemand zu ihrer Geburtstagsfeier erschien. Kurt Fuchel musste auf eine separate Schule gehen und wurde Opfer zahlreicher Gewalttaten.
Die Kinder befanden sich in einer starken Isolation. Viele der Kinder mussten tatenlos zusehen, wie ihre Eltern verhaftet wurden. Der Vater von Ursula Rosenfeld wurde im Zuge der Reichspogromnacht gefangen genommen und nach Buchenwald deportiert. Dort wurde er von den Deutschen zu Tode geprügelt. Beide wurden daraufhin Teilnehmer der Kindertransporte. Der Abschied von den Eltern fiel beiden verständlicherweise schwer. Sie fuhren dann mit dem Zug nach Holland, von wo aus es mit dem Schiff weiter ging. Ursula Rosenfelds persönliche Sachen wurden noch einmal von deutschen Grenzsoldaten durchsucht, dann war sie endlich frei. Die Holländer empfingen die Kinder freundlich und überreichten ihnen sogar Geschenke.
In England angekommen, wurden beide von ihren neuen „Gasteltern“ aufgenommen. Fast alle Kinder hatten ein recht kühles Verhältnis zu den neuen Eltern, so auch Kurt Fuchel. Alle lernten recht schnell Englisch. Ursula Rosenfeld tat dies auf einer Schule und Kurt Fuchel lernte bei einem Nachbarn, welcher deutscher Abstammung war. Sie lebten eine ganze Weile bei ihren neuen Eltern und lernten sie auf eine andere Art lieben. Kurt Fuchel ging zur Armee mit demselben Motiv wie viele andere auch (Jungen und Mädchen). Sie wollten dem Land Dankbarkeit erweisen, welches sie gerettet hatte.
Nach dem Krieg bekamen dann alle Flüchtlingskinder Gewissheit über das Schicksal ihrer Eltern. Viele fielen dem Holocaust zum Opfer, aber einige wenige überlebten. Für Ursula Rosenberg wurde die schlimmste Ahnung Wirklichkeit. Nachdem ihr Vater in Buchenwald umkam, erfuhr sie später, dass ihre Mutter in Minsk erschossen wurde. Kurt Fuchel hatte Glück. Seine Eltern flohen nach Frankreich, wo sie von einigen Leuten versteckt wurden. Er traf sie 1947 in Paris wieder und war anfänglich skeptisch. Er wollte nicht zu seinen Eltern, doch später stellte er fest, dass er großes Glück hatte, da er nun 2 Elternpaare hatte.
So oder ähnlich sahen viele Schicksale jüdischer Kinder aus, die gerettet wurden. Es war nicht leicht und einige wurden sogar als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Aber alle überlebten.
verfasst von Jan G.
Wahlgrundkurs „Jüdische Geschichte und Kultur“ 2001/2002