Juden in Russland
Situation der Juden unter Herrschaft Ivan IV.
Nachdem die Judenfeindschaft sowohl im späten Mittelalter, als auch in der frühen Neuzeit von staatlicher Seite zunehmend gefördert worden war, da die Juden entweder zur Ausreise oder zur Annahme einer neuen Religion gezwungen wurden, erreichte der Hass gegen sie unter dem russischen Zaren Ivan IV. erstmals einen Höhepunkt.
Dieser sehr grausame Monarch erlaubte den im Zarenreich zurückgebliebenen Juden nicht einmal den Handel, da er jede fremde Religion als Bedrohung der russisch- orthodoxen Kirche ansah.
Am Ende des 15.Jahrhunderts schloss sich bei Novgorod die Ketzerbewegung der Judaisierer zusammen, die ein Anlass für die Judenfeindschaft des Staates sein könnte. Die Bewegung wurde jedoch schon nach kurzer Wirkungszeit blutig niedergeschlagen.
Bis Mitte des 16.Jahrhunderts kam es immer wieder zu ketzerischen Äußerungen. Unter anderem auch von dem Mönch Feodosij Kosoj, der aus Russland nach Litauen geflohen war und nun mit seinen Aktionen Ivan IV. direkt beeinflusste.
Obwohl in Polen zu dieser Zeit die gleichen Umstände herrschten, wurden die Juden oft mit den Polen verglichen, weil zwischen den beiden Staaten oft Kriegszustand herrschte.
... unter Wladislav
Zu Beginn des 17.Jahrhunderts kommt es zur Besetzung Moskaus durch polnische Truppen und der polnische Königssohn Wladislav wird zum Zaren gewählt. Diese Funktion konnte er jedoch nie ausüben.
Die Thronanwärter, die häufig als falsche Zarensöhne auftraten, bezeichnete man hin und wieder als gebürtigen Juden, um sie abzuwerten.
Doch die Gesetze waren zu der Zeit soweit gelockert, dass sich vor allem jüdische Händler überwiegend in Großstädten wie Moskau niederlassen und so kleinere Gemeinden bilden konnten.
... unter Peter dem Großen
In der Hälfte des 17.Jahrhunderts stieg das Russische Reich schließlich zur Großmacht auf und gliederte immer mehr kleinere Gebiete infolge mehrerer Kriege in das Reichsterritorium ein. Darunter befanden sich auch Teile Polens und Litauens.
Als Peter der Große an die Macht kam, war von Seiten des Staates keine Judenfeindschaft zu spüren, denn dieser Monarch hatte sich als religiös toleranter Frühaufklärer einen Namen gemacht. Doch diese glückliche Lage sollte nicht lange andauern, denn sie schlug unter seinen Nachfolgern ins Gegenteil um.
... unter Elisabeth
Nachdem das Russische Reich nun vor allem polnische Gebiete annektiert hatte, stellte sich die Frage, was denn nun mit den dort lebenden Juden geschehen sollte. Dieses Problem wurde im 18. Jahrhundert sehr unterschiedlich behandelt.
Zum einen wurden erstmals 1727 etliche Versuche unternommen, die jüdische Bevölkerung aus den betreffenden Gebieten zu vertreiben, aber auf der anderen Seite wurden diese Beschlüsse vor allem aus ökonomischen Gründen wieder rückgängig gemacht.
Zarin Elisabeth fasste 1742 den schärfsten Ausreisebeschluss, der besagte, dass allen Juden von nun an sogar der Besuch Russlands untersagt war. Als im Senat vorstellige Kaufleute die Zarin auf die wirtschaftlichen Missstände hinwiesen, antwortete diese: ,Ich wünsche keinen feilen Profit von den Feinden Christi.' (John Doyle Klier, Russia Gathers Her Jews. The Origins of the Jewish Question in Russia, 1772-1825. Dekald,Ill.1986,S.34.)
... unter Katharina II.
Obwohl der Beschluss der Zarin Elisabeth sehr hart war, so ergaben sich im Nachhinein auch Vorteile. Durch das Fehlen der Juden in Russland kam es auch nicht zur Verbreitung antijüdischer Stereotype, wie das z.B. in Polen der Fall war. Diese Gegebenheit erleichterte wahrscheinlich die nach 1772 aufklärerisch- judenfreundliche Politik der neuen Zarin Katharina II. Denn zuvor hatte sie, ein Jahr nach ihrem Amtsantritt, das frühere Besuchsverbot in Russland für Juden noch erneuert. Ihr politischer und moralischer Umschwung rührte daher, dass sie die Unterstützung der Kirche in einer Staatsangelegenheit, bei der ihr Gatte, Zar Peter III., ermordet worden war, benötigte.
Im Jahre 1772 , dem Jahr der ersten Teilung Polens, wurde ihr jedoch schnell klar, dass man mit der Judenfrage anders als mit Ausweisungen umgehen musste, da nun zahlreiche Juden zu Bewohnern des Russischen Reiches geworden waren.
Im Zuge ihrer Kolonisierungspolitik ließ Katharina auch Juden ohne besondere Einschränkungen nach Russland. Durch aufklärerisches Denken wurde ihr politischer Pragmatismus weiter gestärkt. Denn die Aufklärer, für die die religiöse Toleranz im Mittelpunkt stand, wollten die Juden in die Gesellschaft eingliedern und sie zu Staatsbürgern jüdischen Glaubens machen.
Nach der ersten Teilung Polens wurden die Juden vorerst anderen Bevölkerungsgruppen gleichgesetzt und es wurden auch keine Sonderrechte erlassen. In dieser Zeit war Russland, was die Behandlung der Juden angeht, anderen europäischen Staaten weit voraus. Doch die relativ gute Behandlung zog auch Reglementierungen nach sich: Juden mussten in die Städte ziehen, Brennrechte auf dem Land gingen auf Gutsbesitzer über, zugestandene Rechte wurden kritisch überdacht, ab 1794 doppelte Steuerentrichtung für Juden.
Nachdem der Zarin von Moskauer Kaufleuten diverse Benachteiligungen durch die Juden vorgetragen worden waren, bestimmte sie 1791 schließlich, dass Juden sich nicht in Innerrußland ansiedeln durften. So wurden die Juden als Konkurrenten der Kaufleute von Moskau fern gehalten. Dadurch kam es ebenfalls zur Schaffung des Ansiedlungsrayons, in dem genau die Gebiete festgelegt waren, wo die Juden siedeln durften.
...unter Alexander I.
Der Nachfolger Katharinas, Alexander I., wurde durch seine aufgeklärt- absolutistische Politik bekannt und so beschloss er, dass die Juden nun endgültig die Dörfer zu verlassen hätten, um die russischen Bauern vor der jüdischen Ausbeutung zu bewahren. So wurden in den Jahren 1808 und 1823 Zwangsumsiedlungen eingeleitet.
Die negativen Vorurteile drangen nun auch zunehmend in Russland ein. Sie charakterisierten den Juden als raffgierig, betrügerisch, rückständig und als gefährlich. Weiterhin wurde ihnen vorgeworfen, untereinander loyaler zu sein als dem Staat gegenüber, ein Hindernis für den Fortschritt zu bedeuten und aufklärerisch- integrierende Elemente von der Gemeinschaft fern zu halten.
Daher arbeitete Alexander I. zwei Lösungswege aus:
1. Eine Zusammenarbeit von Rabbis und Regierung zu erzielen, oder
2. Die Vertreibung der Juden nach Kleinasien, wo sie einen unabhängigen Staat gründen können.
...unter Nikolaus I.
Die Grundsätze staatliche Judenpolitik blieben auch unter dem nachfolgenden Zaren Nikolaus I. erhalten, doch die Eingriffe in das Leben der Juden waren nicht mehr erzieherischer Natur, sondern man begann die Juden zu diskriminieren. Ihnen wurden zunehmend mehr Pflichten auferlegt, ohne ihnen im Gegenzug mehr Rechte zuzugestehen. Ab 1835 mussten sie als Rekruten dienen, wobei mitunter sogar zwölfjährige Jungen zu einer vormilitärischen Ausbildung herangezogen wurden. Da dies etlichen religiösen Sitten widersprach, flohen zahlreiche Juden ins Ausland oder verstümmelten sich selbst, um so dem Kriegsdienst zu entgehen.
Im Jahre 1821 wurde die Synagogalaufsicht eingeführt und noch im selben Jahr die Chewra Kaddischa, ein für Beerdigungen zuständiges Gremium der Gemeinde, verboten. Mit Hilfe dieser Bestimmungen sollten die autonomen jüdischen Organisationen aufgelöst werden. Diese Aktion schlug jedoch fehl und es bildeten sich neue, teilweise illegale Organisationen. Auch die damals geltende Kleiderordnung, die es Juden untersagte, sich im Alltagsleben in Tracht zu zeigen, wurde stark unterlaufen.
...unter Alexander II.
Eine kurzzeitige Besserung der Lage brachte die Regierungszeit Alexanders II., die auch als Reformzeitalter bekannt wurde. Diese Reformen sahen eine stufenweise Emanzipation der Juden vor und sollten an die Gedanken Alexanders I. anschließen. So war es z.B. in der Zeit von 1859 bis 1879 der jüdischen Bevölkerung erlaubt, den Ansiedlungsrayon zu verlassen.
Weitere Lockerungen gab es für die Juden auf dem Land, die unter bestimmten Bedingungen wieder Alkohol erwerben durften und an der Selbstverwaltung der Landschaft teilnehmen konnten. Reformen, die keinerlei Diskriminierungen enthielten, gab es 1864 auch im Justizwesen und bei der allgemeinen Wehrpflicht. Anders hingegen bei der Stadtreform, welche 1870 beschlossen wurde: die Juden dürfen höchstens ein Drittel der Abgeordnetensitze einnehmen. Die Reformeuphorie löste bei den Juden Hoffnungen auf eine weitere Verbesserung ihrer Lebensumstände aus.
Doch diese Hoffnungen wurden schon bald jäh durch die Ermordung Alexanders II. im Jahre 1881 zerstört.
...unter Alexander III.
Nach dem Mordanschlag auf den Zaren überflutet eine Welle von Pogromen das Land und die Gedanken der Judenemanzipation- und -integration gerieten schnell ins Hintertreffen.
Mit dem Jahr 1882 begann der neue Zar Alexander III. wieder mit dem starken Abbau der jüdischen Rechte: Pachtverträge wurden untersagt, der Anteil von Juden an staatlichen Bildungseinrichtungen wurde begrenzt, Berufsverbot für jüdische Rechtsanwälte wurden ausgesprochen, das Wahlrecht wurde teilweise entzogen und Kaufleute, Handwerker und Soldaten mussten in den Ansiedlungsrayon zurückkehren.
In Folge der Revolution erhielten die Juden 1906 ein eingeschränktes Wahlrecht, dennoch hielt die angespannte Lage bis 1917 an. Während des Ersten Weltkrieges wurde der Ansiedlungsrayon aus Furcht vor einer Kooperation der Juden mit einem der Feinde endgültig abgeschafft. Die erfolgreiche Revolution im Frühjahr 1917 beendete die Zeit der Benachteiligungen ein für alle mal und die Juden wurden zumindestens formal von nun an als gleichberechtigte Bürger Russlands angesehen.