„Lasst so etwas nie wieder zu!“ (2009)
„Lasst so etwas nie wieder zu!“
Justin Sonder erzählt am Lessing-Gymnasium vom Auschwitz-Überleben dank vieler Zufälle
„Man muss das Geschehene nicht kommentieren, man kann es auch nicht verstehen. Es reicht zu sagen: Das ist Faschismus.“ Diese Worte waren am Mittwochnachmittag im Gespräch mit dem Zeitzeugen Justin Sonder häufiger zu hören. Der Auschwitz-Überlebende berichtete im Schulclub des Lessing-Gymnasiums Döbeln über seine Zeit unter dem nationalsozialistischen Regime und im Konzentrationslager Auschwitz.
1925 als Jude geboren, verlebte Sonder seine Kindheit in Chemnitz. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich das Leben. Eines Nachts, so erzählt Justin Sonder, habe er von der Wohnung aus beobachtet, wie das gegenüberliegende jüdische Kaufhaus von Nazis zerstört wurde. „In Chemnitz ist der Teufel los“, habe sein Vater daraufhin gesagt und tatsächlich wurden in der Pogromnacht viele weitere jüdische Geschäfte zerstört, die Chemnitzer Synagoge abgebrannt und ein Mord begangen. Der Feldzug der Nazis geht weiter und schließlich wird die Wohnung der Sonders durchsucht und zahlreiche Gegenstände beschlagnahmt.
„Mir blieben ein Bett, ein Stuhl und ein Schrank“, berichtet Justin Sonder. Der nun 15-Jährige wird zur Zwangsarbeit verpflichtet, muss nach strikten Vorgaben leben. 1942 werden seine Eltern verhaftet, am 27. Januar 1943 er selbst. „Ein Güterzug brachte uns irgendwo hin“, schildert er. „Wir Sachsen waren im letzten Waggon untergebracht, unser großer Vorteil.“ Bei der Ankunft im Konzentrationslager Auschwitz konnte Justin Sonder die Verfahrensweise der Deutschen beobachten, erkannte ihre Unterscheidung in „arbeitsfähig“ und „nicht zu gebrauchen“. Mitreißend erzählt der alte Herr, wie er sich als Monteur ausgab, von den Deutschen aber weiter festgehalten und nach Verwandten zu Hause ausgefragt wurde. „Ich bekam die Häftlingsnummer 105027“, erzählt Sonder weiter. „Die Zahlen befinden sich noch heute eingebrannt auf meinem Arm. Auch das kommentiere ich nicht. Ganz einfach: Faschismus.“
Justin Sonder wurde ins Konzentrationslager Auschwitz III Monowitz gebracht. Dort war er bei insgesamt 16 Selektionen dabei, manche gingen erst in letzter Minute noch gut für ihn aus. „Einmal war ich wegen eines schmerzenden Knies im Krankenbau“, erzählt er. „Der wurde eines Morgens selektiert. Ich durchlebte die fürchterlichsten Minuten meines Lebens, als die Deutschen einen nach dem anderen aufriefen.“ Doch der Name Justin Sonder war einer der wenigen, die nicht auf der Liste standen. „Ein SS-Mann sagte zu mir: ‘Ich möchte einmal im Leben so viel Glück haben wie du’. Und er hatte Recht“, erzählt der Zeitzeuge. „Es waren die Zufälle, die ein Überleben möglich machten.“
Justin Sonder spricht weiter, von einer Widerstandsaktion, dem Alltag im KZ, von Bekanntschaften und schließlich von der Evakuierung am 18. Januar 1945. Er kehrte als einer der wenigen überlebenden Juden zurück in seine Heimatstadt Chemnitz, wo er bis heute lebt. „Wenn die Dahingemordeten von Auschwitz noch einmal ihre Stimmen erheben würden“, so Sonder. „Es wäre der gewaltigste Schrei, den man je hörte. Lasst so etwas nie wieder zu, würden sie rufen.“
Döbelner Allgemeine Zeitung
Judith Schilling, 13.03.2009
„Kämpft gegen Rassenwahn mit allen Kräften“
Justin Sonder war so jung wie seine Zuhörer, als er 1943 ins Vernichtungslager Auschwitz abtransportiert wurde. Gestern berichtete der 83-Jährige Schülern des Lessing-Gymnasiums über die Zeit des Faschismus und sein Überleben im Lager. Der Verein Treibhaus hatte den Zeitzeugen nach Döbeln eingeladen. Einige der Gymnasiasten hatten erst in den Winterferien das Lager Auschwitz besucht.
Justin Sonder war 15, als seine Eltern nach Auschwitz deportiert wurden. Er war 17, als er 1943 auf offener Straße verhaftet und über Dresden im Viehwaggon in das Lager geschafft wurde. Schon da begann eine unglaubliche Serie glücklicher Umstände, die ihn überleben ließen. „Wir Sachsen waren im letzten Waggon.“ Als er in Auschwitz auf der hell erleuchteten Rampe ankam, konnte er deshalb die Selektion beobachten und wusste, worauf es ankam: von der SS auf die linke Seite dirigiert zu werden. „Die Gruppe hatte handwerkliche Berufe. Also habe ich gerufen ‚17 Jahre, Monteur‘“, erzählte Sonder. Von den 2500 Menschen des Transports seien aber 1800 auf die rechte Seite gewunken worden. „Diese Leute hatten noch eine Lebenserwartung von 120 Minuten.“
Das Glück verließ ihn bei allem Unglück nie. Sonder überstand 16 weitere Selektionen – wenn auch manche nur mit knapper Not. Er hatte einen Chemnitzer im Lager getroffen, der ihn gleich zu Beginn die nötige Überlebensstrategie beibrachte. Später gehörte er zum geheimen Widerstand im Lager und war an einer Sabotageaktion im Buna-Werk beteiligt, das die IG-Farben in Monowitz von Häftlingen errichten ließ. Dafür hätte er wie andere gehängt werden können.
Sonder überlebte auch die Evakuierung des Lagers Anfang 1945, den Todesmarsch und den Transport bei eisigen Temperaturen im Kohlewaggon. Von den Amerikanern wurde er nach einer Odyssee durch mehrere Lager schließlich befreit.
Justin Sonder hatte im Gegensatz zu vielen anderen Überlebenden von Vernichtungslagern Deutschland nicht verlassen, sondern war nach Chemnitz zurückgekehrt. Dort hatte er vor der Deportation Menschen gekannt, die ihm halfen. Die Tante, die eigentlich eine nette Nachbarin war. Den Metzger, der ihm Fleisch zusteckte. Und den Molkereibesitzer, einen strammen Nazi, der dem Jungen verbotenerweise Butter, Quark und Käse zukommen ließ. „Nicht jeder Nazi war ein Mörder“, meint Sonder.
Aber das System war ein mörderisches. Mit Repressionen fing das Verbrechen an. Juden durften später nicht mehr ins Kino, nicht telefonieren, keine Haustiere halten. Selbst das Kaufen von Blumen war ihnen verboten. „Das muss ich nicht kommentieren. Das ist Faschismus“, sagte Sonder. Nach dem Krieg ging er zur Polizei, wurde Kripo-Beamter, studierte Jura.
Sechs Millionen Juden haben die Nazis umgebracht, davon 1,5 Millionen in Auschwitz. „Hat die Menschheit aus Auschwitz etwas gelernt? Ich glaube es nicht. Wir können die Kriege gar nicht alle aufzählen, die seitdem geführt wurden.“ An seine jungen Zuhörer appellierte Justin Sonder, Rassenwahn nicht zuzulassen. „Kämpft dagegen mit allen Kräften.“
Döbelner Anzeiger
Jens Hoyer, 11.03.2009