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Bilder, die nicht loslassen (2009)

Schülerinnen und Schüler des Lessing-Gymnasiums Döbeln zur Gedenkstättenfahrt in Auschwitz

Es ist kalt draußen. Am Fenster des Busses zieht die schneeweiße Landschaft vorbei. Wenige Bäume, keine Menschen und flache Felder – eine triste Einöde, die durch den vielen Schnee verschlafen wirkt. Dann taucht auf einmal ein hoher schwarzer Stacheldrahtzaun auf. Er setzt sich hart vom Weiß überall ab. Dahinter sind flache, längliche Baracken zu erkennen, die sich über eine gewaltige Fläche erstrecken. Im Bus wird es immer stiller, je näher der Ort rückt, der für die meisten Sinnbild des Verbrechens und des Leides ist.

Ein unfassbarer Ort
Ein unfassbarer Ort Foto: LGD

„Auschwitz wird immer unbegreiflich bleiben“, sagt der polnische Guide. „Nur die, die es erlebt haben, wissen von Hunger, Elend und Angst. Ich kann lediglich die Sätze zur Geschichte bilden. Der Rest bleibt im Verborgenen.“ Von einem Fuß auf den anderen treten die Jugendlichen vor ihm. Die Kälte macht den Besuch der Gedenkstätte Auschwitz nicht gerade erträglicher. 33 Schülerinnen und Schüler des Lessing-Gymnasiums Döbeln sind in Begleitung von fünf Lehrerinnen und Lehrern für vier Tage nach Polen gekommen.

„Ich finde es wichtig, dass interessierte Schüler die Möglichkeit haben, diesen besonderen historischen Ort zu besuchen“, erklärt Lehrer Michael Höhme, der die Exkursion nach Auschwitz plante. „Eindrücke, die man in einem ehemaligen Vernichtungslager erhält, sind sehr prägend. Sie regen dazu an, sich mit einem Teil unserer Geschichte, dem Nationalsozialismus, auseinanderzusetzen.“

Im Stammlager Auschwitz I sind es vor allem die Objekte der Ausstellung, die bei den Schülern in Erinnerung bleiben. Zwei Tonnen abgeschnittener Haare der Toten, Berge von Schuhen, Prothesen, Brillen und Koffern – Überbleibsel, die heute als Beweise des Verbrechens dienen. „Emotional hat mich der Ort an sich weniger bewegt“, berichtet Julia Wieclawik. „Es sind mehr die Ausstellungsstücke, die Auschwitz für mich authentisch machen.“ Das Bild des Vernichtungslagers, das die 16-jährige nach der Exkursion zurückbehält, ist zwar immer noch schrecklich, doch hat sich seine Grausamkeit in gewisser Weise abgeschwächt. „Mir fehlt einfach der Bezug zu Auschwitz“, sagt Julia.

Ähnlich erleben die meisten der Schüler zwischen 14 und 19 Jahren Auschwitz. Die Internationale Jugendbegegnungsstätte in Auschwitz, in der die Gruppe während der Exkursion unterkommt, bietet den Teilnehmern viele Möglichkeiten, das Erlebte zu vertiefen und zu verarbeiten. Die hauseigene Bibliothek bietet ausreichend Materialien zu Themen, wie Nationalsozialismus, Judentum oder Auschwitz. Außerdem ist der Aufenthaltsraum für viele nicht nur ein Platz, um gemeinsam Spaß zu haben, sondern auch, um über die Ereignisse des Tages zu sprechen.

Ein wichtiger Programmpunkt ist die Diskussionsrunde nach der Besichtigung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. „Die Gesprächsrunde war sehr hilfreich“, berichtet Mechthild Piechaczek (14). „Es war interessant zu erfahren, welche Eindrücke die anderen haben.“ Während des Gespräches über das Gesehene und Erlebte wird deutlich, dass für die meisten Auschwitz zwar immer noch für schreckliche Verbrechen steht, aber der Ort an sich weniger Eindruck auf die jungen Besucher machte. „Auf mich wirkte die Anlage irgendwie unreal, mehr wie ein extra erbautes Museum“, schildert der 18-jährige Friedrich Beyer. „Das liegt sicherlich daran, dass man sich die Massenabschlachtung von Menschen nicht vorstellen kann."

Lehrerin Katrin Niekrawietz, die bereits dreimal in Auschwitz war, hört zum ersten Mal, dass Schüler das ehemalige Vernichtungslager weniger erschütternd erleben. „Für mich ist Auschwitz immer wieder erschreckend“, berichtet sie. „Auch, wenn man den Ort bei jedem Besuch ein bisschen anders empfindet – das hängt sehr von der Atmosphäre ab.“ In diesem Jahr ist es vielleicht der viele Schnee, der den Ort in einem anderen Licht erscheinen lässt. Viele der jungen Menschen haben Probleme, das Bild von Auschwitz in den Medien mit dem eigenen zu verbinden. „Trotzdem ist und bleibt Auschwitz ein geschichtlicher Zeitzeuge“, sagt Friedrich Beyer.

Wilhelm Brasse
Wilhelm Brasse Lagernummer 3444, Foto: LGD

Und auch, wenn die Vorstellungskraft der jüngeren Generation nicht ausreicht, um die schrecklichen Verbrechen und das Leid von Auschwitz zu begreifen, sind Exkursionen, wie diese wichtig. „Aus dem Holocaust erwächst logischerweise für die junge Generation heute keine Schuld, die man abtragen müsste, wohl aber die Verpflichtung, sich besonders mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen“, sagt Michael Höhme. Ein Gespräch mit dem Zeitzeugen Wilhelm Brasse, der Lagernummer 3444, soll den Jugendlichen eine weitere Möglichkeit dafür geben.

Der 92-jährige Pole berichtet von seiner Inhaftierung, seiner Arbeit als Fotograf beim Erkennungsdienst, glücklichen Zufällen und schrecklichen Momenten. Die Aufnahmen, die er für die Polizei und für den Arzt Dr. Mengele machte, seine Kenntnis der deutschen Sprache und diverse Kontakte und Freundschaften mit deutschen Aufsehern retteten sein Leben. „Mir ging es gut im Lager – ohne Schreie, ohne Schläge und im Warmen“, erzählt Brasse. Doch zugleich quälen ihn bis zum heutigen Tag die Bilder von abgemagerten Kindern, schrecklich zugerichteten Häftlingen und Frauen, die medizinischen Experimenten dienten. Diese Erlebnisse hindern ihn bis heute daran, auch nur einen Blick durch eine Kamera zu werfen. „Ich lebe und bin zufrieden, will aber nichts mehr mit Fotos zu tun haben“, sagt der alte Mann. Die Schüler, die ihm aufmerksam zuhören, spricht er immer wieder mit „Meine Lieben“ und „Meine Freunde“ an – vielleicht ein Zeichen der Dankbarkeit und Versöhnlichkeit. Dankbar dafür, dass er lebt und versöhnlich mit den jungen Deutschen, die seine Geschichte hören wollen damit der Holocaust niemals in Vergessenheit gerät.

LGD-Gedenkstättenfahrt 2009
LGD-Gedenkstättenfahrt 2009 Foto: LGD

„Das Gespräch mit dem Zeitzeugen brachte mich zunächst durcheinander“, berichtet Mechthild Piechaczek. „Ich konnte nicht verstehen wie manche so viel Glück haben konnten, während andere an Kälte, Hunger und Schmerzen litten. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass seine Arbeit ihn auf eine andere Art und Weise zerstörte.“ Begreifen wird man Auschwitz und seine Schrecken nie können, doch müssen wir uns die Geschehnisse der Vergangenheit immer wieder vor Augen führen und nie aufhören, der Opfer und Geschädigten des Nationalsozialismus zu gedenken.

Judith S.
April 2009