Spurensuche in Berlin (1999)
Schüler der Wahlgrundkurse besuchen jüdische Lernorte in der Hauptstadt
Wenn man gefragt werden würde, was man mit Berlin verbindet, wären doch die spontanen Antworten das Brandenburger Tor, die Siegessäule, den Fernsehturm, die einstige Berliner Mauer. Vielleicht würde dem ein oder anderem auch noch die Gedächtniskirche und der Berliner Bär in den Sinn kommen. Aber wer assoziiert mit der Metropole Berlin schon das Judentum und dessen Bedeutsamkeit früherer Zeiten?
Wohl kaum einer.
Welche wichtige Rolle der jüdische Glauben für viele Menschen in Deutschland und insbesondere in Berlin gespielt hat und heute wieder spielt, vermag kaum jemand zu erahnen. Auf die Spuren jüdischen Glaubens und jüdischer Religiosität in unserer Hauptstadt begaben sich im Oktober 1999 bereits zum zweiten Mal Schüler des G. E. Lessing-Gymnasiums Döbeln im Rahmen des Wahlgrundkurses "Jüdische Geschichte und Kultur". Sie nahmen diese Exkursion zum Anlass um sich einmal mehr die schicksalsträchtige und leidvolle Geschichte der Juden zu vergegenwärtigen.
Es war aber nicht allein die Absicht sich die grausamen Ereignisse der jüdischen Geschichte in Erinnerung zu rufen.
Es war auch die Neugierde auf eine facettenreiche und faszinierende Glaubensrichtung, die die Schüler zu dieser Exkursion bewog. Die Geschichtsträchtigkeit des Judentums wurde mit dem Besuch der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße 30 besonders deutlich. Die Besichtigung stellte die erste Etappe auf der Suche nach Spuren jüdischen Glaubens in Berlin dar.
Die Neue Synagoge
Das an eine Moschee erinnernde, im maurischen Stil errichtete Bauwerk verbindet Vergangenheit und Gegenwart und trägt beides gleichermaßen in sich. Die Grundsteinlegung erfolgte am 20. Mai 1859, nachdem die damals sehr bedeutende jüdische Gemeinde das Grundstück in der Oranienburger Straße erworben hatte.
DER BAU DER NEUEN SYNAGOGE
Für den Bau und die Innenausstattung waren Eduard Knoblauch und August Stüler
beauftragt worden. Diese sahen sich nun vor einem schwierigen bautechnischen Problem. Das Gelände war ein schmales längsrechteckiges, im schiefen Winkel auf die Straße auftreffendes Territorium. Die vorgeschriebene Ausrichtung eines Gotteshauses in westöstliche Richtung nach Jerusalem war ohne weiteres mit diesen Ausmaßen der Fläche nicht zu realisieren. Da sich das Baugelände in der Tiefe jedoch auf sein vollständiges Ausmaß ausbreitete, fand Knoblauch die Lösung darin an die Straßenfront einen Verwaltungstrakt zu bauen. Er errichtete also einen 12-eckigen Raum und glich damit den vorhandenen Knick im Grundriss aus. An diesen ausschließlich zu Verwaltungszwecken genutzten Raum schloss sich der Synagogenhauptraum in der vorgeschriebenen Himmelrichtung an. Nach der Lösung dieses bautechnischen Problems konnte am 5.9. 1866 die feierliche Einweihung der Synagoge stattfinden.
DIE BEDEUTUNG DES NEUEN GOTTESHAUSES
Die Synagoge war von nun an für die damals 28000 Mitglieder umfassende Gemeinde ein Symbol für die Gleichberechtigung der Juden in Berlin.
Mit einer Höhe von 50, 21 m und einer Tiefe von 96,66 m war sie nicht nur die größte Synagoge Berlins, sondern stand in ihren Ausmaßen den christlichen Kirchen in nichts nach. Dennoch ließ ihre Erscheinung nicht nur unter Deutschen, sondern selbst unter Juden heftige Diskussionen aufkommen. Kritikpunkte waren vor allem, dass die maurische Bauweise die Fremdartigkeit der jüdischen Religion noch betonen würde. Aus dieser Tatsache heraus könnte man, nach Meinung einiger Juden, eine Integration in die deutsche Gesellschaft keineswegs erwarten. Die konservativen Juden kritisierten vor allem die Neuerungen in der Innenausstattung und im Gottesdienst. Für sie war es unvorstellbar jüdische Gottesdienste mit einer Orgel und einem Chor abzuhalten.
Dennoch stand die Neue Synagoge symbolhaft für die wichtige Rolle der Juden in der damaligen Gesellschaft und den Versuch sich in diese zu integrieren. Dem Wunsch Carl Heymanns die Gebete in der Synagoge sollten zum Lenker aller Dinge emporsteigen, Erhörung finden, zugleich aber auch zeitgemäß in Form und Inhalt sein, wurde die Neue Synagoge gewiss gerecht.
DER SCHRECKLICHE LAUF DER GESCHICHTE
Die Freude und der Stolz über das Gotteshaus in der Oranienburger Straße währte bis in die 30iger Jahre. Mit der allmählichen Machtübernahme der Nationalsozialisten entwickelte sich die Synagoge (hebräisch bet ha Knesset) im wahrsten Sinn ihrer hebräischen Bedeutung zu einem Haus der Versammlung. Bis 1938 war sie der Zufluchtsort für viele verfolgte und gehetzte Juden in Berlin. In der Nacht vom 9. auf den 10.11. 1938 kam es zu einer versuchten Brandstiftung durch die Nationalsozialisten. Einzig dem Reviervorsteher des 16. Polizeireviers Wilhelm Krützfeld ist es zu verdanken, dass Schlimmeres verhindert werden konnte. Jedoch vermochte auch jener die spätere Schließung des Gotteshauses nicht zu verhindern. Am 14.09.1939 fand der letzte Gottesdienst für lange Zeit statt. Fortan wurde die Synagoge als Lagerhalle der Wehrmacht und als Luftschutzbunker missbraucht. Während der britischen Luftangriffe auf Berlin kam es am 23.11.1943 zu schweren Zerstörungen des Gebäudes. Dem noch nicht genug, wurde 1958 der Synagogenhauptraum aus nichtersichtlichen Gründen gesprengt. Von nun an lag in der Oranienburger Straße der einstige Stolz der noch vor dem 2. Weltkrieg so bedeutsamen jüdischen Gemeinde unter Trümmern begraben. So grausam und abscheulich es klingen mag, waren das Haus Gottes und die Menschen, die es mit Leben erfüllten, gleichsam in Asche und Staub zerfallen.
DER WIEDERAUFBAU
Im Juli 1988 beschloss die Stiftung "Neue Synagoge Berlin" die Ruine als bleibendes Mahnmal für die gegenwärtige und für viele künftige Generationen wiederaufzubauen. Es fand daraufhin noch 1988 eine symbolische Grundsteinlegung statt, der eine zweifellos legitime Kontroverse über die Art der Restauration vorausging.
Die Auseinandersetzung bestand darin, daß man vor dem Hintergrund der grausamen, abscheulichen und unvorstellbaren Verbrechen an den Juden aus Gesamtdeutschland und ganz Europa die Synagoge schwerlich in ihren Originalzustand hätte zurückversetzen können. Dies wäre einer Verdrängung und dem Versuch des Rückgängigmachens und damit Vergessens des Geschehenen gleichgekommen. Man wollte aber ein Mahnmal errichten. Dies sollte gleichsam eine Warnung und die Forderung nach ständiger Erinnerung aussprechen. Deshalb entschied man sich beide Phasen, die Phase der einst prachtvollen Architektur und die der gewaltsamen Zerstörung nebeneinander sichtbar zu machen. Mit der Rekonstruktion sollte das Judentum wieder dort einkehren, wo es früher beheimatet war, ohne aber den Versuch der Wiederherstellung der Vergangenheit zu wagen.
Die Lösung lag darin das Erhaltene in seinen Originalzustand zurückzuversetzen und das Zerstörte durch sichtbar andere Farben und Materialen vom Originalen abzuheben.
Mit der Bewältigung dieses großen Vorhabens konnte die jüdische Gemeinde in Berlin der Inschrift über dem Portal "pitchu sch'arim w-jawo'goi schomer emunim" (Tuet auf die Pforten, daß einziehe das gerechte Volk, das bewahret die Treue.) zum ersten Mal nach 1938 wieder folgen. Auch Ignatz Bubis, der einst sagte: "Nicht in meinen kühnsten Träumen habe ich damit gerechnet, dass Berlins schönste und größte Synagoge - einst als Sinnbild deutsch-jüdischer Gemeinschaft verstanden - eines Tages aus den Trümmern wiedererstehen könnte." , konnte zum Glück das Gegenteil bewiesen werden.
Nach der Besichtigung der Neuen Synagoge, die sichtlich Be- und vielleicht auch Verwunderung, vor allem aber Erstaunen und Entsetzen hervorgerufen hatte, machten sich die Schüler auf, die zweite Etappe ihrer Exkursion zu bewältigen. Mit dem Besuch des jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee wurde der in der Geschichte immer wieder eine Rolle spielende Tod unmittelbar thematisiert.
Der Jüdische Friedhof Berlin-Weißensee
Der jüdische Friedhof Berlin-Weißensee ist ein ca. 40 Hektar großes Gelände, auf dem sich heute über 115 000 Grabstätten befinden.
Er wurde am 9.9. 1868 eingeweiht. Der Blick über die schier endlos erscheinenden Reihen von Grabsteinen lässt spürbar werden, warum die Juden Friedhöfe als Plätze ewiger Ruhe verstehen. Der Gang durch das weit verzeigte Netz von alleeartig wirkenden Wegen ruft ein inneres Gefühl der Ruhe hervor. Durch dieses Gefühl nimmt man unweigerlich die visuell erfassten Eindrucke unter dem Rauschen der Bäume noch bewusster wahr.
DIE KONFRONTATION MIT DEM DUNKELSTEN KAPITEL JÜDISCHER GESCHICHTE
Bereits am Eingang wird man mit dem schrecklichsten Abschnitt in der jüdischen Geschichte direkt konfrontiert - der Ermordung von über 6 Millionen Juden durch das nationalsozialistische Regime. Im Gedenken an die jüdischen Opfer des
Nationalsozialismus wurde ein Rondell errichtet, das auf Tafeln die Namen aller großen Konzentrationslager benennt. Auch an einigen anderen Orten des Friedhofs sieht man sich den Ausmaßen der systematischen Ermordung der Juden während des Hitler-Regimes gegenüber. So findet man immer wieder Gräber, die anstatt des exakten Sterbedatums nur das Jahr des Todes und den Ort des Konzentrationslagers aufweisen. Ein bekanntes Beispiel sind die Eltern von Kurt Tucholsky. Das Grab der Mutter ist nur ein Symbolgrab. In den Grabstein ist der Deportationstermin und der von der SS datierte Sterbetag im KZ Theresienstadt eingraviert. Ob die Mutter von Kurt Tucholsky wirklich am 7.5. 1943 verstarb, wird immer ein Geheimnis bleiben. Ein weiteres Indiz für die enorme Anzahl der ermordeten Juden ist das "Feld" für Opfer des Faschismus. Hier liegt die Asche von 809 Juden begraben, die in den Konzentrationslagern umgekommen sind. Sie sind allerdings nur ein kleiner Teil der ermordeten Berliner Juden.
Paradox ist in diesem Zusammenhang, dass es auf dem Friedhof ebenfalls ein Ehrenfeld für jüdische Soldaten des 1. Weltkrieges gibt. Die Juden ,die noch im 1. Weltkrieg für ihr Vaterland Deutschland ihr Leben gelassen haben, wurden von dem gleichen Land, für welches sie eingetreten waren, nicht einmal 30 Jahre später nahezu ausgerottet.
Genau wie die Neue Synagoge wurde auch der Friedhof in Weißensee ein Ort der Zuflucht. Er stellte für viele Berliner Juden die letzte Chance dar, der Deportation zu entgehen. In der Gärtnerei des Friedhofs wurden während der großen Deportationswelle Berliner Juden zum Gärtner ausgebildet, damit sie sich so nach der Auswanderung ins Ausland eine neue Existenz aufbauen können. Der Friedhof - eine Stätte der Toten- bot die Chance weiterzuleben, obwohl er während der Kriegszeit von 50 Bombeneinschlägen betroffen war.
Dennoch sind hier nicht nur Opfer beider Kriege begraben, sondern viele Gräber sind auch die letzte Ruhestätte von Menschen mit einem erfüllten Leben.
DAS GESICHT DES JÜDISCHEN FRIEDHOFS WEISSENSEE
Beim Entlanggehen der fast schon unzählbaren Grabreihen wird eines deutlich: die Gräber sind keineswegs alle von Einfachheit und Schlichtheit geprägt. Bei einigen Grabstätten scheint der jüdische Glauben - im Tode sind alle gleich - außer Acht gelassen zu sein. Immer wieder findet man monumentale Grabmäler in den unterschiedlichsten Baustilen (Renaissance, Neoklassizismus, Rokkoko...).
Diese letzten Ruhestätten von, zu ihren Lebzeiten, einflussreichen Juden, spiegeln nicht nur die wichtige soziale und gesellschaftliche Rolle, sondern auch die Besitztümer dieser Personen wider. Ein Beispiel für eine solche (nach unserem Verständnis) gigantische Grabstätte ist die des Berliner Verlegers Rudolf Mosse. Er war Herausgeber des Berliner Tageblattes, der Berliner Volkszeitung, des 8 Uhr Abendblattes. Er wagte, wie viele besitzende Juden den Versuch mit dieser prunkvollen Grabstätte seine Zugehörigkeit zur reichen, deutschen Oberschicht zu unterstreichen. Neben diesen vereinzelten prächtigen Gräbern entdeckt man immer wieder große Familiengräber. In der Ehrenreihe fanden nicht nur hervorragende Persönlichkeiten, wie Schriftsteller, Professoren, Juristen, Historiker, Philosophen ihre letzte Ruhe, sondern auch ihre Familien.
Doch auch die einfachsten und ohne große Zierde gestalteten Gräber finden ihre Beachtung. Es scheint, als hätte für all die Verstorbenen eines gleichermaßen gegolten:
Begrabe dein eigenes Leben
In anderer Herz hinein,
so wirst du, ob auch ein Toter,
ein ewig Lebender sein.
(Grabinschrift von Louise Salinger)
Der Grabstein dieser schlichten und doch schönen Gräber erfüllte nach jüdischen Verständnis so seinen Zweck. Er erinnert daran den Toten nicht aus dem Gedächtnis schwinden zu lassen. Was er gewesen ist und wie er war, ist in den Herzen der Angehörigen verhaftet.
So finden sich also neben Gräbern der einflussreichen, reichen Juden auch Grabstätten von Juden, die sich jeden Tag aufs neue im Leben behaupten mussten. Diese unterschiedlichen Lebensaufgaben spiegeln sich unmittelbar an der Grabausstattung wider. Es finden sich auf dem Friedhof auch Gräber von bekannten Rabbinern und sogar geschändete Torarollen liegen hier ehrwürdig begraben. Es sind viele Faktoren, die den Besuch des Friedhofs zu einem eindrucksvollen Erlebnis werden lassen. Es ist nicht allein die Größe und die Anzahl der Gräber. Es ist auch nicht allein der Unterschied einfacher Grabreihen und mächtiger Grabstätten. Es ist vielmehr die direkte Konfrontation mit dem Tod jüdischer Menschen. Vor dieser Begegnung scheuen sich vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse viele. Vor allem ist es aber das für uns schwer fassbare Verständnis der jüdischen Religion vom Tod. Der Tod ist nicht das Ende. Der Tod bedeutet vielmehr die Einbindung der Seele in den Bund des ewigen Lebens.
Aus dem Besuch der Neuen Synagoge und des Friedhofs in Weißensee konnten die Schüler sicherlich die eine oder andere Erfahrung gewinnen. Und auch wenn sicher Vieles wieder in Vergessenheit gerät, ist der Teil, an den man sich erinnert um so wichtiger. Allein schon der Versuch sich mit der allgegenwärtigen Problematik zu beschäftigen, ist ein großer Schritt dahingehend, dass man das Judentum mit all seinen Facetten und Besonderheiten und mit seiner Geschichte erfasst und versteht.
Vielleicht gelingt es uns dann irgendwann, daß man Juden als Menschen wie alle anderen ansieht und sie weder wie bemitleidenswerte Geschöpfe noch wie fremdartige Wesen, die einfach nicht zu verstehen sind, behandelt.
verfasst von Simone F.
Wahlgrundkurs „Jüdische Geschichte und Kultur“ 1999/2000