Und Gad ging zu David
Die Erinnerungen des Gad Beck
„Manche Lebensläufe enthalten eine solche Fülle an unerhörten Begebenheiten, die allein ein geborener Erzähler zu bändigen vermag. Ein solcher Lebensbericht, in welchem das Wunder und die Rettung ihren Platz haben, sind die Erinnerungen des Gad Beck.“
Tagesspiegel, Berlin
Über den Autor
Gad Beck wird 1923 als Sohn einer christlich - jüdischen Familie in Berlin geboren. Er wächst sorglos und behütet auf, bekommt jedoch mit der Zeit den wachsenden Antisemitismus am eigenen Leib zu spüren und schließt sich 1941 der "Hechaluz" an, einer Gruppe, die den jüdischen Widerstand und später auch das versteckte Leben im Untergrund organisierte. Gad überlebt das nationalsozialistische Regime, lebt zunächst in München und emigriert 1947 nach Israel. 1979 kehrt er nach Berlin zurück und arbeitet eng mit Heinz Galinski zusammen, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland von 1988 - 1912. In den letzten Jahren hielt Gad Beck unzählige Vorträge und Lesungen in Europa und den USA.
Foto: Gad Beck (links) und Pierre Seel (rechts) auf der Bühne im Berliner Zoo Palast Kino nach der deutschen Premiere des Dokumentarfilms „Paragraph 175“ am 22. Februar 2000 - James Steakley / CC BY-SA
Über das Buch
Deutschland - im Februar 1943. Draußen tobt der Krieg. Goebbels spricht von einem "judenreinen" Berlin und die wenigen, die bisher den Fängen der Nationalsozialisten entgangen sind, warten zumeist in Internierungslagern auf die bevorstehende Deportation. Unter ihnen: Gad Beck, 20 Jahre, christlich - jüdischer Abstammung, homosexuell. Keine besonders vorteilhafte Kombination im Hitler - Deutschland. Dennoch: Gad hat überlebt, als einer der wenigen im "judenreinen" Berlin, als einer von etwa 5000 Untergetauchten. Und mehr noch: Er hat nicht nur überlebt, nein, Gad hat auch ge - lebt. Trotz Elend, Hunger, Leid, schmerzlichen Verlusten, physischen und vor allem psychischen Wunden.
Warum? Waren es Klugheit, Cleverness, Organisationstalent, der unbedingte Überlebenswille und eine gehörige Portion Mut, die ihm dazu verhalfen? Ja, das auch. Gad Beck ist Jude. Aber er ist ebenso Mensch. Und vielleicht war es gerade das, was verhindert hat, dass nicht nur er, sondern auch unzählige andere zu Opfern der emsig rotierenden Nazi - Maschinerie wurden.
Zurück ins Internierungslager in der Rosenstraße 2 - 4. Hunderte wildfremde Menschen, die eines verbindet: Nämlich die Ahnungslosigkeit, die Angst vor dem Ungewissen, die sich tief ins Innere bohrt, die die Hoffnung Stück für Stück aufzufressen droht. Sie alle teilen ein Schicksal, dessen Ausweglosigkeit viele schier zur Verzweiflung treibt. Die Nächte im Lager sind niemals ruhig, Stimmengewirr von allen Seiten, weinende Kinder hier, unterdrücktes Wimmern da, an Schlaf kaum zu denken. Und was macht Gad? Rückt einfach näher an seinen Nachbarn heran, ohne Kampf und ohne Krampf. Verstohlene Zärtlichkeiten im Schutze der Dunkelheit. Liebe im Lager. " Damals habe ich meine Methode verfeinert, wie man sich lieben kann, auch wenn andere Menschen im selben Raum schlafen; keiner soll es merken, aber die Erfüllung muss trotzdem möglich sein. Zärtlichkeit, Behutsamkeit und Hingabe sind die Schlüsselwörter - man muss ja nicht immer bumsen, dass die Wände wackeln! Das galt später auch in den geheimen Unterkünften, wo man nicht herumgehen, reden oder die Toilettenspülung benutzen durfte, damit kein Nachbar merkte, dass dort Leute wohnten. Da musste man sich eben etwas einfallen lassen."
Etwas einfallen lassen - es gibt kaum eine treffendere Umschreibung für das, was das Leben im Untergrund ausmacht. Sei es die oftmals umständliche Beschaffung von Nahrungsmitteln, sei es eine simple Verabredung mit Kontaktpersonen, sei es nur das freie Bewegen auf der Straße oder eben die Erfüllung natürlicher Bedürfnisse - Einfallsreichtum und Kreativität hießen die Zauberwörter. Denn die Gefahr entdeckt und damit dem sicheren Tod ausgeliefert zu werden, lauerte überall, jedes unüberlegte Wort, jede unvorsichtige Handlung konnte das sofortige Ende bedeuten. Und das kam für viele schneller als erwartet, so dass sich die Zahl derer, die den Holocaust im Untergrund überlebten, von anfänglich etwa 5000 auf 1500 verringerte. Auch Gad wurde immer wieder auf schmerzlichste Weise mit dem Abschied konfrontiert, der oftmals urplötzlich oder auch gar nicht erfolgte. So verlor er im Laufe der Zeit unzählige Freunde, Verwandte, geliebte und ihm nahe stehende Personen, erlebte hautnah deren Schicksal und das immer im Bewusstsein, dass er selbst der nächste sein könnte, den man auf die im wahrsten Sinne des Wortes mörderische Reise nach Osten schickte.
Was dem Leben in der Illegalität voraus geht, die unbeschwerte Kindheit im Kreise einer multi - religiösen, bunt zusammen gewürfelten Familie, die erste Konfrontation mit dem Antisemitismus und die zunehmenden Schwierigkeiten des Alltags in einem immer fremder werdenden Deutschland - auch das ist Teil Gad Becks erstaunlich lebendiger Erinnerungen. Was ist das Leben wunderlich, verwirrend, kaum zu zähmen! Und während Gad erste behutsame sexuelle Erfahrungen mit dem eigenen Geschlecht sammelt, erfährt er gleichzeitig durch seine Umwelt eine ihm unverständliche Ablehnung, ein kleiner Vorgeschmack auf ein Leben als "Randgruppe in der Randgruppe" gewissermaßen.
Doch das politische Klima wird rauer, der Himmel über Berlin verdunkelt sich mehr und mehr. Der Nationalsozialismus dringt unaufhaltsam in die Köpfe der Menschen, ergreift Besitz von Deutschland und fordert erste Opfer. So muss Gads Familie zwangsweise umziehen, erlebt blinde Zerstörungswut und eine Flut von Pogromen, die die Freiheit der Juden zunehmend einschränkt. Was tun? Erste Gedanken an Auswanderung, an Flucht und Untertauchen keimen zunächst im Verborgenen und werden bald zum einzigen Ausweg aus einer Situation, die kaum noch zu kontrollieren ist.
Das ist der Grund, weshalb sich Gad 1941 der "Hechaluz" anschließt, einer überparteilichen "Bewegung der zionistischen Arbeiterpioniere für Palästina". Ziel dieser Bewegung ist die so genannte Alija, die Einwanderung nach Palästina. Zu dieser sollte es für Gad zwar nie kommen, dennoch bildet der Anschluss an die Gruppe eine wichtige Etappe im kontinuierlichen und hartnäckigen Kampf gegen die Nazis, gegen die Deportation, gegen den Tod. Denn Gad verlebt hier nicht nur schöne Tage mit Gleichgesinnten, sondern findet außerdem durch die intensive Auseinandersetzung mit dem jüdischen Glauben zu seinen religiösen Wurzeln und knüpft darüber hinaus wichtige Kontakte, die die Grundlage für sein späteres illegales Leben darstellen. So wird Gad mit der Zeit zum unverzichtbaren Bestandteil einer Gruppe, die besonders in solch schwierigen Zeiten Halt, Vertrauen, Freundschaft und Geborgenheit, aber auch die Möglichkeit zum aktiven, organisierten Widerstand gegen das Nazi - Regime gibt.
Denn ohne solch ein komplexes, genauestens aufeinander abgestimmtes und auf gegenseitigem Vertrauen basierendes Netzwerk wäre Gads Weg in die Illegalität 1942 verbaut, wäre das Überleben im Untergrund und die Rettung vieler Juden unmöglich gewesen. Diese ungezählten, uneigennützigen und oft vergessenen Helfer sind es, denen Gad Beck mit seinem Buch ein Denkmal setzt, ohne sie dabei in den Himmel zu loben, sondern einfach indem er ihren unermüdlichen und selbstlosen Einsatz für die unterdrückten und gefährdeten Mitmenschen mit einem leisen "Danke" auf den Lippen beschreibt.
Doch was bedeutet das eigentlich, Leben im Untergrund, in der Illegalität? Es bedeutet, die eigene Identität gegen eine andere einzutauschen, neuer Pass, neues Aussehen, neue Wohnung. Und jetzt erst zeigt sich, wie viel Kraft, Ausdauer und Organisationstalent nötig sind, um die Probleme des Alltags erfolgreich zu meistern und nebenbei noch so vielen anderen Juden wie möglich zu helfen. "Das Leben in der Illegalität klingt, so hintereinanderweg erzählt, einerseits wie eine Kette von Anekdoten, andererseits wie ein unüberschaubarer Wust aus gleichzeitigen Aktivitäten und Aufgaben. Genau so war es auch. Die Tage waren so vollgestopft mit Terminen wie der Kalender eines Managers."
Geheime Quartiere, Geld, Nahrung und Papiere mussten besorgt, Kontakte zu eventuellen Helfern geknüpft und Verhandlungen geführt werden. All das vor dem Hintergrund der Kriegswirren, der Bomben über Berlin, ständig in der Angst, trotz aller Vorkehrungen von der Gestapo enttarnt zu werden. Die Gefahr lauert überall. Und bei alledem das "Leben" nicht zu vergessen, das Lieben nicht zu vergessen, fällt manchmal schwer, doch Gad Beck hat sich durch nichts und niemanden davon abhalten lassen. Hat seine Gefühle zugelassen, hat geliebt, gelitten und ist immer Mensch geblieben. Zärtlichkeit, während draußen Bomben fallen. Die Liebe ist stärker als der Krieg.
Das Leben im Untergrund - ein Spiel der Identitäten. Und so wird aus dem Juden Gad Beck auch schon mal für fünf Minuten ein strammer Nazi. HJ - Uniform an und schnell einen Freund aus dem Sammellager befreit. Mut und Einfallsreichtum waren grenzenlos, wie auch folgender Briefauszug zeigt: "Glaub mir, Nathan, wir sind nicht feige, denn wenn man hier auf Schritt und Tritt verfolgt wird, jedes Problem an der Tür das Ende einem bringen kann und man trotz allem weiter macht und nebenbei [...] auch ihnen eine Möglichkeit zur Jeziah
[Rettung] zu dir zu geben [gemeint ist die Flucht anderer Juden], so sind das wohl Beweise genug für unsere Unerschrockenheit und Mut."
Doch trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, trotz aller Bemühungen gelingt es der Gestapo, Gad aufzugreifen, gefangen zu nehmen und ihn in ein tiefes, schwarzes Loch aus Verzweiflung, Angst und Hoffnungslosigkeit zu stürzen.
Draußen tobt immer noch der Krieg, liegt allerdings bereits in den letzten Atemzügen.
Was Gad gerettet hat? Dadurch, dass er erst verhältnismäßig spät aufgegriffen wurde, war das Kriegsende bereits absehbar und für die meisten Gestapo-Beamten stand es im Vordergrund, ihre eigene Haut zu retten. So kommt es, dass Gad im April 1945 entlassen wird, erschöpft, krank und mit einer ungewissen Zukunft - aber lebend. Einer von 1500. Einer, der es geschafft hat. Einer, der Mensch geblieben ist, einer, der nicht nur über -, sondern auch gelebt hat.
Trailer zu einer Inszenierung im Tiyatrom Berlin, 2016
Was dieses Buch so besonders macht...
... ist die unnachahmlich frische, direkte und lebendige Art des Erzählens. Dank Gad Beck bleibt das Leben eines untergetauchten Juden kein fremdes, unvorstellbares und unglaubliches Mysterium, sondern ist auf einmal greif- und nachvollziehbar. Der Leser taucht ein in eine Welt und eine Zeit, über die zwar viel geredet, geschrieben, gedacht wird, die den meisten jedoch trotz allem wie ein ferner, unbegreiflicher und unfassbarer Teil der Geschichte scheint. Und die Betroffenen selber bleiben nicht selten eingesperrt in einem engen Kokon der unausgelebten Gefühle. Gad Beck bringt diesen Kokon zum Platzen, weil er erzählt, ehrlich, ohne Umschweife, menschlich. Von tiefen Gefühlen, von Angst und Hoffnungslosigkeit. Aber auch von schönen Tagen in der Natur, von unvergesslichen Liebesnächten und grenzenloser Lebensfreude. Gad Beck muss sich nicht hinter der "angemessenen" Trauer verstecken, sondern kann aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfen, Erinnerungen, die so frisch und unmittelbar wirken, als sei das Erlebte erst wenige Tage alt. Was bleibt ist die Gewissheit, dass das Leben, so hart, so schwer, so unerträglich es manchmal scheinen mag, das all das ein Geschenk ist, ein gut verpacktes Geschenk. Und wir müssen uns nur trauen, es zu öffnen und seinem Zauber grenzenlos zu verfallen...
"Wir müssen jeden Tag kämpfen. Wir müssen jeden Tag für unser Leben kämpfen."
verfasst von: Katja B.
Wahlgrundkurs „Jüdische Geschichte und Kultur“ 2002/2003