Der Hamburger Friedhofskonflikt
Die jüdisch - hamburgische Geschichte hat ebenso wie die jüdisch - deutsche ihre Glanz- und Elendszeiten.
Zu Letzterem gehört wohl unumstritten auch der verhängnisvolle Hamburger Friedhofskonflikt im Jahr 1992. Auf dem Gelände eines von den Nazis zerstörten jüdischen Friedhofes in Hamburg - Ottensen sollte ein typischer "Konsumtempel" entstehen.
Hintergrund
Der jüdische Friedhof im Stadtteil Ottensen (Hamburg - Altona) wurde im 17. Jahrhundert eingerichtet. Die Bestattungen fanden von ca. 1660 - 1934 statt. Im zweiten Weltkrieg fiel der Friedhof den Nationalsozialisten zum Opfer. 1937 wurden die Leichenhalle und die Kapelle abgerissen, 1940 entstanden zwei Bunker auf dem Gelände. 1942 war von dem Friedhof nicht mehr viel übrig, die Nazis ließen ihn dem Erdboden gleichmachen. Einige prominente Tote wurden durch die Deutsch - Israelitische Gemeinde auf den Friedhof Hamburg - Ohlsdorf umgebettet. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges erhielten die neu gegründete Jüdische Gemeinde in Hamburg sowie die Jewish Trust Corporation for Germany das Terrain zurück. Im Jahr 1950 wurde das ehemalige Friedhofsgelände durch die Jüdische Gemeinde an eine Tochtergesellschaft des Hertie Konzerns verkauft und 1952/53 entstand darauf ein Hertie Warenhaus. Es wurden noch ein letztes Mal Gebeinreste auf den Friedhof in Ohlsdorf umgebettet.
1990 kam es zum Verkauf des Hertie Terrains an die Hamburger Firmengruppe Büll & Dr. Liedke. Es sollte ein neues Einkaufszentrum entstehen.
Weiterer Verlauf
Durch den Abriss des alten Gebäudes (Hertie) wurde die ultra - orthodoxe Gruppierung Athra Kadisha auf das Vorhaben aufmerksam - diese Organisation kämpft in aller Welt für die Erhaltung jüdischer Grabstätten. Sie reisten von weit her, z.B. aus New York, London oder Amsterdam, nach Hamburg, um in Ottensen nach dem Rechten zu sehen.
Für sie ging es vor allem um eine Frage: Kann geistliches jüdisches Recht Priorität vor weltlichem deutschen Recht haben? Die Orthodoxen gingen zum Teil mit rabiaten Mitteln gegen den geplanten Bau vor, so besetzten sie zum Beispiel das Areal und gewährten den Baumaschinen keinen Zugang, so dass mehrmals die Polizei eingreifen musste. Selbst der Vorstand der jüdischen Gemeinde appellierte an Athra Kadisha die Demonstrationen einzustellen, da sie der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland (Hamburg) schaden würden.
Die Gemeinde sieht es eher als ihre Aufgabe an, sich für die Lebenden einzusetzen, ohne dabei das Recht der Toten zu missachten. Die jüdischen Bürger in Hamburg verfolgten die Ereignisse auch meistens bloß aus Meldungen und Kommentaren der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens. Sie hatten selbst kaum entscheidend Wort oder Stimme. Die Bürger stellten sich eher die Frage, wo die Gemeinde zum Zeitpunkt des Verkaufs war, wo waren da ihre Proteste? War die Gemeinde nach dem Holocaust so resigniert, dass es niemanden interessierte, was geschah? In Wirklichkeit sah es so aus: Hamburgs jüdische Gemeinde war zu dem Zeitpunkt gar keine wirkliche Gemeinde, sie war nur ein Teil davon. 1946 hingen etwa 500 notleidende Gemeindemitglieder von der Verpflegung aus der Gemeindeküche ab. Sogar 130 Mitglieder bezeichneten sich selbst als glaubenslos. Es war nichts mehr von dem Zusammenhalt zu spüren, den es vor 1933 in der damaligen Dreier - Gemeinde Altona - Hamburg - Wandsbek einmal gegeben hatte. Keiner glaubte nach dem Krieg an ein Wiederaufleben jüdischer Gemeinschaften.
Deshalb kam es auch zu dem Verkauf des ehemaligen Friedhofsgeländes, die Gemeinde interessierte sich einfach nicht mehr dafür. Heute hält man diese Entscheidung natürlich für einen großen Fehler, der begangen wurde und zutiefst bedauert wird. (so der Geschäftsführer der jüdischen Gemeinde, Heinz Jaeckel) Dies änderte aber nichts an der Rechtslage. Der Besitzer des Areals in Hamburg Ottensen baut rechtsmäßig. Deshalb erscheinen die Proteste der Orthodoxen auch sinnlos. Niemand bestreitet der Athra Kadisha das Recht auf die Proteste, doch sie werden nur Zustimmung finden, wenn sie für die nichtjüdische Umwelt einigermaßen nachvollziehbar sind. Dies fällt jedoch nicht einmal den in Hamburg lebenden Juden leicht.
Es bestand also die Gefahr, dass die Athra Kadisha durch ihre radikalen Proteste das Verhältnis der hier lebenden Juden und ihrer nichtjüdischen Umwelt erheblich stört, da man ja dachte, alle Juden wären der Meinung, dass so ein strikter Widerstand erforderlich wäre. Es war eine Gefährdung der hier mühsam aufgebauten Existenz und des Lebens der jüdischen Gemeinschaft. Nun sollte ein Kompromiss gefunden werden. Der Züricher Rabbiner Rosenberg schlug vor, dass eine Kaufhauskonstruktion gefunden werden müsse, bei der das Gebäude über den jüdischen Gräbern "schwebt". Jedoch stellt das für den Chef der Hamburger Senatskanzlei, Thomas Mirow, keine Lösung dar. Für ihn gibt es nur einen Ausweg aus dem ganzen Dilemma: die jüdische Gemeinde muss das Areal zurückkaufen.
Foto: Sebastian scha. / CC BY-SA
Haltung der Politiker
Die Politiker wollten sich aus dieser Angelegenheit am liebsten ganz heraushalten, doch diese bequeme Zurückhaltung konnten sie kaum durchstehen. Die strenggläubigen Protestierer wollten sich mit dem Hinweis auf die Rechtslage nämlich nicht zufrieden geben. Nach ihren Worten gehört ein jüdisches Grab den Toten bis auf Ewigkeit. So war es nicht zu vermeiden, dass der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, an den Bürgermeister Voscherau appellierte, den Bau zu stoppen. Selbst aus den Vereinigten Staaten erhielten die Juden Unterstützung. Amerikanische Kongressabgeordnete wandten sich an Helmut Kohl und der US - Außenminister Lawrence Eagleburger ist mit der "Affäre Ottensen" (Die Welt) inzwischen befasst. Der Konflikt erregte weltweit Aufsehen.
Situation heute
Die Freie Hansestadt Hamburg, die Jüdische Gemeinde in Hamburg und der neue Eigentümer und Bauherr bemühten sich, einen Ausgleich zu finden und den Streit beizulegen. Im Jahre 1992 traf der hierzu angerufene Jerusalemer Oberrabbiner Itzchak Kolitz seine gutachterliche Entscheidung: Das Erdreich selbst muß dort unangetastet bleiben, wo Gräber und Gebeine vorhanden sind. Auf diese Flächen wird eine Betonplatte gegossen, auf der gebaut werden darf. Genauso wurde verfahren. Heute befindet sich auf dem Areal des ehemaligen Friedhofes ein Einkaufscenter. Jedoch gingen nicht alle Grabmale verloren. 170 von kulturhistorischem Wert wurden auf den Friedhof Hamburg - Ohlsdorf gebracht. Dieser dient heute auch als Gedenk- und Erinnerungsstätte des aufgelassenen Friedhofs Ottensen.
verfasst von Julia F.
Wahlgrundkurs „Jüdische Geschichte und Kultur“ 2002/2003