Verbannung / Boykott

"Die tausendjährige Geschichte des deutschen Judentums ist zu Ende."
Leo Baeck, 1933

1. Vorgegebene Gründe für die Isolierung der Juden

„Die Juden sind unser Unglück“ - Dieses Zitat war eine weit verbreitete Parole in Deutschland während der Regierungszeit der Nationalsozialisten. Doch wieso kam es zu derartig rassistischen Meinungen nach einer langen Zeit der Emanzipation der Juden.
Schon kurz nach der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 begannen die Nationalsozialisten ihr Parteiprogramm deutschlandweit durchzusetzen. Eine Grundlage für deren Politik war der Antisemitismus. Danach sei die Weltgeschichte vom Kampf zwischen der „hochwertigen“ Rasse, den Ariern, und der „minderwertigen“ Rasse, den Juden, bestimmt. Durch die Vermischung mit den Juden würde die germanische Rasse „verdorben“ und auf lange Sicht untergehen. Ziel der NSDAP war es daher die „Reinheit des deutschen Blutes“ zu bewahren bzw. wiederherzustellen. Um dieses zu erreichen, wurden zwischen April 1933 und September 1935 mehr als 50 Gesetze erlassen, welche die Juden endgültig aus dem öffentlichen Leben Deutschlands verbannen sollten.
Schon seit Mitte der zwanziger Jahre hatte sich die antijüdische Boykottbewegung in Deutschland ausgeweitet. Jedoch kam es erst zu Beginn des Jahres 1933 zu ersten politischen Anordnungen seitens der Regierung um die Arisierung der deutschen Bevölkerung einzuleiten. So wurde gleich nach Regierungsantritt Hitlers der Ahnenpass eingeführt. Dieser sollte über die Abstammung einer Person informieren und führte gleichzeitig zur Erkennung und Registrierung der in Deutschland lebenden Juden. Mit diesem Schritt gelang es Hitler die verhasste Minderheit der Juden auszusondern und somit schuf er die Grundlage für weitere Maßnahmen gegen den „Staatsfeind“.

Berlin oder Oldenburg (?).- Boykott der Nationalsozialisten gegen jüdische Geschäfte in Deutschland, SA-Mann und SS-Mann beim Kleben eines Schilds mit der Aufschrift "Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!" an das Schaufenster eines jüdischen Geschäfts

Foto: Bundesarchiv, Bild 102-14468 / Georg Pahl / CC-BY-SA 3.0 / CC BY-SA 3.0 DE

2. Politische Maßnahmen

„Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!“ - Die erste reichsweite Maßnahme gegen die deutschen Juden nach der nationalsozialistischen Machtübernahme bildete der "Aprilboykott" am 1. April 1933. Dieser war nach Aussage der deutschen Regierung die Reaktion auf die „Gräuelpropaganda“ im Ausland, die seit dem Antritt Hitlers publiziert wurde. Das „ Zentralkomitee zur Abwehr der jüdischen Gräuel –und Boykotthetze“, welches den Boykott unter Leitung Julius Streichers organisierte, bezeichnete ihn als Vergeltungsaktion und Warnung für das Weltjudentum.
Am 1. 4. 1933 um 10 Uhr sollte der Boykott im ganzen Reich beginnen. Vor jedem jüdischen Geschäft positionierten sich uniformierte und bewaffnete SA-Leute und hinderten die Kundschaft am Betreten des Ladens. So drückten z.B. SA-Angehörige in Annaberg/Sachsen den Kunden jüdischer Geschäfte einen Stempel mit der Inschrift:“ Wir Verräter kauften bei Juden“ ins Gesicht.

Lastwagen mit uniformierten Nationalsozialisten und Mitgliedern des Stahlhelms fuhren mit Plakaten durch die Straßen und schrieen ihre Parolen lauthals in die Menge. An diesem Tag kam es zu zahlreichen Angriffen auf jüdische Geschäftsinhaber, zu Plünderungen und zerschlagenen Fensterscheiben. Doch nicht nur Einzelhandelsgeschäfte waren betroffen, sondern vor allem auch jene, die freie Berufe ausübten (z.B. Ärzte, Künstler und Journalisten). So wurden hier vielerorts ebenfalls Wachposten vor die Praxistüren der Ärzte und Anwälte gestellt und vereinzelt wurden sogar jüdische Richter und Staatsanwälte aus den Gerichten vertrieben.

Nationalsozialistische Boykott-Posten vor dem Warenhaus Israel in Berlin

Foto: Bundesarchiv, Bild 102-14469 / Georg Pahl / CC-BY-SA 3.0 / CC BY-SA 3.0 DE

Die Reaktion auf derartige Maßnahmen gegen jüdische Mitbürger waren im Ausland sehr groß. Vor allem Amerika kritisierte Deutschland stark und drohte sogar mit der Boykottierung deutscher Exportwaren. Aus Angst vor negativen Konsequenzen für die deutsche Wirtschaft und das weltpolitische Ansehen, wurde der ursprünglich auf unbegrenzte Zeit festgelegte Boykott bereits nach einem Tag durch eine Regierungserklärung beendet.
Die Bedeutung dieses Boykotts war groß. So war dieser ein klares und deutliches Startsignal für die Verfolgung und Unterdrückung einer Minderheit, mit dem Ziel die ökonomische Existenz der deutschen Juden zu untergraben. Um zukünftige Maßnahmen wie Terroraktionen, Enteignungen und Diskriminierungen zu legitimieren wird die Judenfrage von nun an auf gesetzlichem Wege geregelt. So kam es bereits sechs Tage später zu dem ersten antijüdischem Gesetz in Deutschland.

Der 7. April: Der Tag an dem sich alles änderte

Berlin, Deutsches Theater, Kammerspiele, Schauspiel "Professor Mamlock", Premiere, 1959

Mit dem Erlass des „ Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ änderte sich innerhalb kurzer Zeit das Leben der Juden vollkommen.
Das Gesetz diente als Handhabe zur Gleichschaltung des öffentlichen Dienstes und der Entlassung von Gegnern des nationalsozialistischen Regims. Besonders davon betroffen waren vor allem die "Beamten jüdischer Abstammung". Der in diesem Gesetz erstmals ausformulierte „Arierparagraph“ (Paragraph 3) verbot die Beschäftigung von „Nichtariern“ im öffentlichen Dienst und forderte die sofortige Entlassung von Nichtariern in den Ruhestand. Von dieser Regelung ausgenommen waren jüdische Frontkämpfer des 1. Weltkriegs und deren Angehörige, sowie jene, die vor dem 1.8.1914 Beamte geworden waren. Diese Ausnahmen entfielen jedoch bereits 1935 mit den Nürnberger Gesetzen.
Der durch die Nationalsozialisten als „völkische Gesetzgebung“ bezeichnete „Arierparagraph“ verdrängte jüdische Bürger aus allen beruflichen und gesellschaftlichen Bereichen. Durch den Druck der NSDAP übernahmen 1933 nahezu alle deutschen Organisationen, Verbände und Vereinigungen diesen Paragraphen. Dies war der Beginn einer langen Gesetzesverkettung.
Eine beeindruckende künstlerische Verarbeitung dieser Ereignisse liefert das Drama "Professor Mamlock" von Friedrich Wolf.

Foto: Bundesarchiv, Bild 183-69671-0002 / Hochneder, Christa / CC-BY-SA 3.0 / CC BY-SA 3.0 DE

Ein Gesetz folgt dem anderen

Nachdem es den Nationalsozialisten gelungen war, die Juden wirtschaftlich zu schwächen und sie aus den öffentlichen Ämtern zu vertreiben, war dennoch kein Ende der Diskriminierung in Sicht. Im Gegenteil. Fast täglich kam es zu neuen Verordnungen, welche die Juden in ihrer Freiheit einschränkten. So kam es am 22.04.1933 zum Berufsverbot für jüdische Kassenärzte, Apotheker und Lehrer. Doch nicht nur Erwachsene waren von den Verboten betroffen. So begrenzte das „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ vom 25.April 1933 die Neuzulassung jüdischer Schüler und Studenten entsprechend dem jüdischen Bevölkerungsanteil auf 1,5 Prozent. Jüdische Schüler und Studenten wurden auf rein jüdische Einrichtungen versetzt. (Diese wurden im Zuge des Weltkrieges jedoch 1941 wieder geschlossen).
Mit der Gründung der Reichskulturkammer im September 1933 wurden Juden aus der Presse sowie aus künstlerischen und freien Berufen entfernt. Auf diese Art und Weise folgte ein Gesetz dem anderen. Juden wurden von Ehrenämtern, Steuerermäßigungen, vielen Sozialleistungen, vom Wehrdienst und aus Vereinen aller Art ausgeschlossen.

Die vielfältigen Verbote bezogen sich dabei nicht nur auf die beruflichen Aspekte, sondern auf alle Lebensbereiche. Ab Mitte 1933 wurden jüdische Werke aus Galerien, Bibliotheken, Konzerten, Theatern und Kinos entfernt. Nach Juden benannte Straßen wurden umgetauft und Namen jüdischer Gefallener von Ehrenmälern entfernt. Bis April 1934 haben bereits Tausende Lehrer, Anwälte, Hochschullehrer (so z.B. Viktor Klemperer) und Ärzte ihre Arbeit verloren. Ein Großteil von ihnen versuchte bereits jetzt auszuwandern.
Die Menschen glauben immer, dass die Diskriminierung der Juden erst im 2.Weltkrieg begann. Jeder sieht dann die schrecklichen Bilder der Konzentrationslager vor sich und die dünnen und kranken Menschen. In Wirklichkeit war dies jedoch „nur“ der traurige Höhepunkt einer jahrelangen antijüdischen Politik, welche die Juden schon Jahre zuvor ertragen mussten. Zahlreiche Gesetze bereiteten Schritt für Schritt ein grausames Ende dieser Minderheit vor.

Augenzeugen berichten

Gerhard Durlacher erlebte den 1.April 1933 als fünfjähriger Junge in Baden-Baden. In einer autobiographischen Erzählung schreibt er:
„Durch die Menge der Zuschauer drängten wir uns nach vorn. Einige sehen uns stirnrunzelnd an, andere gelassen oder verstört. Aber es sind auch manche dabei, die grinsen, als bereite ihnen das Schauspiel Vergnügen. Herr Kindler vom Bekleidungsgeschäft um die Ecke ist unter ihnen. Mit gespreizten Beinen, die Hände in die Hüften gestemmt, steht er in der ersten Reihe, und auf seiner Lederjacke glänzt das rote Abzeichen mit dem Hakenkreuz. An beiden Seiten der Eingangstür stehen stämmige Männer in brauner Uniform, den Revolver am Koppel mit dem Schulterriemen, die Beine in glänzenden schwarzen Stiefeln, unbeweglich wie Statuen. Neben ihnen, an Stöcken befestigt, große Schilder mit Wörtern, die ich nicht lesen kann und trotzdem verstehe. Hochgeschossene Jungen, ein gutes Stück größer als ich, rufen die Parolen aus, ältere Leute in muffigen, abgetragenen Kleidern murmelnd zustimmend oder kopfschüttelnd. ’Kauft nicht bei Juden, sie sind euer Unglück’ und ‚Die Juden verderben das Volk, Deutsche wehrt euch’. Die großen Schaufensterscheiben sind verschmiert, mit Davidsternen aus tropfendem Kalk[...]
Mutter wagt sich keinen Schritt mehr vor. Aber der andere SA-Mann hat uns erkannt und sagt mit einer Geste spöttischer Dienstbeflissenheit: ’Gehen sie nur rein, gnädige Frau, wir verhelfen ihnen bald zur Pleite’ [...] Dutzende Blicke verfolgen uns mit kühler, spöttischer Gleichgültigkeit oder wenden sich ab, als wir mit klopfenden Herzen und bleiernen Füßen die weißverschmierte Ladentür erreichen. Herr Kindler grüßt uns mit einem gemeinen Grinsen, und mir wird schlecht vor Angst.“


Ein Eimsbütteler Jude fuhr am 1.April in die Innenstadt:
„Ich war sehr deutsch eingestellt, ich konnte das alles nicht begreifen... Ich stieg hier (Osterstraße) in die Straßenbahn ein, fuhr bis Stephansplatz. Da standen schon die SA-Leute mit Flugblättern: ’Juden, Schmarotzer am deutschen Volk ,Blutsauger!’ und all diese schönen Verse. Ich steckte den Zettel ein, aber dann ...packte mich die Wut, so dass ich den Zettel nahm und dem SA-Mann vor die Füße warf. Das war natürlich eine Dummheit. Es hat mich einfach so gepackt. Einer warf mich um, einer traf mich mit den schweren Stiefeln am Kopf. Ich war schon halb weg (bewusstlos), da kam ein größerer Herr und sagte zu dem SA-Mann: ’Gib mir den Burschen, ich werde ihn mir schon kaufen! ’Er fasste mich am Kragen und schleifte mich in ein Haus .Ich, dachte jetzt ist es ganz vorbei, jetzt kann der mit mir machen, was er will! Er sagte aber: ’Ich habe das beobachtet, wie konnten sie so etwas machen ? Sie nehmen ein Taxi und fahren zum nächsten Arzt. ’Das war hochanständig. Ich kam ins Krankenhaus und so weiter. Schließlich hat mir dieser Mann auch gesagt,...die Burschen kennen mich, die wollen mich am nächsten Tag verhaften“.

verfasst von Corinna L.
Wahlgrundkurs „Jüdische Geschichte und Kultur“ 2001/2002