Rahel Varnhagen von Ense

Romantiker wie Brentano oder die Brüder Schlegel sind auch heute noch durch ihre Werke bekannt.

"Der Spinnerin Nachtlied" von Clemens Brentano, gelesen von Chantal P. (2019)

Viele der als intellektuell und gebildet geltenden Romantiker verkehrten gern in den literarischen Salons des 18. Jahrhunderts. Diese waren ein Ort politischer und kultureller Gespräche und Diskussionen und boten Raum für den direkten und intensiven Gedankenaustausch. Viele der Besucher hatten eine liberale Gesinnung, strebten ein einheitliches, nichtabsolutistisches Deutschland an und beriefen sich auf Selbstständigkeit und die Vernunft des freiheitlich denkenden Menschen.

Der literarische Salon von Madame Geoffrin (1755)
Der literarische Salon von Madame Geoffrin (1755)

Die Salons, die es in jeder Metropole Europas gab, wurden oft von gebildeten Frauen geführt, den Salonnièren. Unter ihnen gab es sehr geistvolle, kultivierte und emanzipierte Frauen. Eine von ihnen ist Rahel Varnhagen von Ense, die ihren Salon in Berlin führte.

Moritz Michael Daffinger: Porträt Rahel Varnhagen von Ense 1817

Lebenslauf

19. oder 26.05.1771 Geburt als Rahel Levin -> Tochter eines jüdischen Bankiers in Berlin -> schwere Kindheit aufgrund Strenge des Vaters
1804 Liebesbeziehungen mit dem attraktiven Graf Karl Finck von Finckenstein und dem temperamentvollen Spanier Don Raphael d'Urquijo -> Scheitern nach längerer Verlobung
1790- 1806 Inhaberin eines literarischen Salons in Berlin als eigenständige Frau
1813 versorgt Kriegsverwundete und sammelt Spenden
1808 lernt Karl August Varnhagen kennen
27.09.1814 Eheschließung mit dem wohlhabenden Karl August Varnhagen -> Taufe -> Wechsel zum protestantischen Glauben
1820-1827 Salon in der Französischen Straße 20 mit Ehemann Karl August Varnhagen
1827-1833 Salon in der Mauerstraße 36
1833 Tod mit 61 Jahren in Berlin

Wie war Rahel Varnhagen?

Schon als Kind äußerte sich ihre spätere Klugheit und Emanzipation durch Selbstständigkeit und einen gewissen erfrischend originellen Geist, der ihr allerdings im Umgang mit dem Vater oder den Lehrern zum Verhängnis wurde. Sie war über die Zeit heraus modern. Ihr wird später auch Humor, Eigenständigkeit und charakterliche Stärke nachgesagt. Außerdem war sie eine sehr freiheitsliebende und vor allem leidenschaftliche Frau, die jede Emotion, sei es im Geschrei der Wut oder in sanften Worten der Liebe, voll auslebte. Sie kostete das Leben also in allen Facetten aus und zeigte ihre Gefühle.
Des Weiteren wird durch viele bekannte Besucher ihrer Salons, unter anderem Heinrich Heine, berichtet, wie angenehm und offen ein Gespräch mit ihr war. Sie verstand es, zuzuhören und einfühlsam zu sein und sich gleichzeitig nicht aufzudrängen. Sie muss ihren Gesprächspartner durch ihre rhetorischen Fähigkeiten und ihre Raffinesse in eine Art Bann gezogen haben.
Durch diese Gabe war sie in der Lage, bei Konflikten anderer schnell eine hilfreiche Lösung zu finden.
Rahel liebte den Kontakt mit Menschen, half gern und war sozial. Als 1931 in Berlin die Cholera ausbrach, half sie und versuchte die Not zu lindern, obgleich sie selbst von Krankheiten betroffen war.

"Sie kam, sprach und siegte."

Karl Gustav Brinckmann über Rahel Varnhagen

Die literarischen Salons

Salons waren Orte des guten, geistreichen Gesprächs und des grenzüberschreitenden Austausches. Sie wurden fast immer von Frauen geführt. Voraussetzung war, dass diese die Möglichkeiten, also einen großen Raum im eigenen Haus besaßen.

Außerdem mussten die Salonnièren über genügend finanzielle Mittel und einen angesehenen Stand verfügen, um einen eigenen Salon zu eröffnen. Bekannte Gastgeberinnen waren:

Salon in Berlin (Abb. Anna Dorothea Therbusch: Bildnis Henriette Herz 1778, Alte Nationalgalerie Berlin)
Salon in Berlin, Tochter von Moses Mendelssohn, spätere Frau von Friedrich Schlegel (Abb. Anton Graff: Porträt Dorothea Schlegel, ca. 1790, Alte Nationalgalerie Berlin)
Salon in Berlin, eine gute Freundin von Rahel Varnhagen und Schwester von Clemens Brentano (Abb. Brentanos Schwester Bettina von Armin, unbekannter Künstler, um 1890)

Rahel Varnhagen als Salonnière

Berlin: Mauerstraße mit Böhmischer Kirche (Betlehe
Berlin: Mauerstraße mit Böhmischer Kirche (Betlehe Kupferstich, koloriert, 1776, Johann Georg Rosenberg

Die kontaktfreudige und soziale Rahel Varnhagen eröffnete in der Jägerstraße, der Französischen Straße und später, als Verheiratete, in der Mauerstraße ihre Salons.
Ihren ersten Salon gründete die emanzipierte, jüdische Frau selbstständig. Sie war eine sehr angesehene Person. Besonders Heinrich Heine schätze ihren Intellekt und ihren Verstand. Er schätzte ein, sie sei die „geistreichste Frau ihrer Zeit“.
Weitere bekannte Besucher ihres Salons waren hauptsächlich Autoren und Philosophen der Romantik. Zum Beispiel:

Clemens Brentano Ludwig Tieck Friedrich Schleiermacher Alexander von Humboldt Heinrich Heine

Ihr Salon vereinte viele verschiedene gesellschaftliche Schichten und unterschiedliche Arten von Menschen. Die gesellschaftlichen Grenzen und Einschränkungen schienen ihren Salon nicht zu erreichen.

Fritz Ebery in "Jugenderinnerungen eines alten Berliners"

"Rahel wusste alles zu vereinigen und zu versöhnen. Wir sehen bei ihr Krieger und Diplomaten, Künstler und Gelehrte, sie kümmerte sich nicht um Rang, Stellung und Ruf ihrer Gäste und Freunde, nur Originalität und Natürlichkeit, alles übrige war ihr gleichgültig."

Der Stand in der Gesellschaft spielte keine Rolle. Adlige trafen auf Bürgerliche und Juden auf Christen. So traf auch Prinz Louis Ferdinand von Preußen seine schöne und skandalumwitterte Geliebte Pauline Wiesel.

Als sie ihren zweiten Salon eröffnete, den sie mit ihrem Ehemann zusammen führte, wandten sich einige Romantiker von ihr ab. Rahel schien durch ihre jüdische Identität und ihre selbstbewusste, sowie ungezwungene Art nicht mit dem Streben der Romantiker nach deutscher Einheit, das sich oft mit Nationalismus und Konservatismus paarte, vereinbar. Ihren zweiten und dritten Salon, den sie als Verheiratete konventioneller führte, besuchten fortschrittlich demokratisch Denkende, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder Leopold von Ranke

Rahels Varnhagens Umgang mit Autoren der Zeit

Angelika Kauffman: Porträt Johann Wolfgang von Goethes, 1787, Goethemuseum Weimar

Rahel Varnhagen wird auch als „Vermittlerin zwischen der Zeit und Goethe“ beschrieben. Die selbst eher dem Stil des „Jungen Deutschlands“ zugewandte Salonnière, war eine große Bewunderin von Goethes Werken und seiner Person selbst. Sie verstand seine Werke als eine der ersten und erlebte sie als Offenbarung. Besonders seine differenzierten psychologischen Betrachtungen des Menschen beeindruckten sie. Gemeinsam mit ihrem Mann besuchte sie den großen Schriftsteller in Weimar. Der schätzte die Kombination von Verstand und Emotion, die bei Rahel Varnhagen zu finden war.

1809 schrieb sie über Goethe:

"Durch all mein Leben begleitete der Dichter mich unfehlbar, und kräftig und gesund brachte der mir zusammen, was ich […] nicht sichtlich zusammenzuhalten vermochte. […] [E]r war ewig mein einziger, gewissester Freund, mein Bürge, daß ich mich nicht unter weichenden Gespenstern ängstige; mein superiorer Meister, mein rührendster Freund, von dem ich wußte, welche Höllen er kannte! - kurz, mit ihm bin ich verwachsen und nach tausend Trennungen fand ich ihn immer wieder, er war mir unfehlbar; und ich, da ich kein Dichter bin, werde es nie aussprechen, was er mir war!"

Goethe 1795 über Rahel Varnhagen:

„Sie ist stark in ihren Empfindungen und doch leicht in ihrer Äußerung. Jenes gibt ihr eine hohe Bedeutung, dies macht sie angenehm. Jenes macht, daß wir an ihr die große Originalität bewundern, du dies, daß diese Originalität liebenswürdig wird, daß sie uns gefällt […] Sie ist, soweit ich sie kenne, in jedem Augenblick sich gleich, immer einer eignen Art bewegt und doch ruhig – kurz, sie ist, was ich eine schöne Seele nennen möchte.“ (zit. nach Carola Stern 1994)

Ein weiterer Autor, der junge Heinrich Heine, wurde zu einer Art Seelenverwandten für Rahel. Sie erkannte Heines Genie und sie wurden durch ähnlich liberales Gedankengut verbunden.

Rahel Varnhagens Protest gegen den Zeitgeist

Ende des 18. Jahrhunderts hatten Frauen nur wenige Rechte. Es gab keine Schulbildung für Mädchen. Aufgrund ihrer „natürlichen Fähigkeiten“, wie Sittsamkeit, Gehorsam und Fleiß, wären sie für die Kindererziehung und den Haushalt zuständig.
Gleichzeitig gab es zahlreiche Frauen, die sich durch literarische und journalistische Arbeiten aus diesem Rollenbild heraushoben, sich mit politischen und gesellschaftskritischen Themen auseinandersetzten und die Emanzipation der Frau forderten und förderten. Auch Rahel Varnhagen durfte nie eine Schule besuchen und wird doch als eine sehr kluge und kultivierte Frau beschrieben, mit der man sich geistreich unterhalten konnte. Die literarisch und wissenschaftlich Interessierte bildete sich selbst durch das Lesen von zeitgenössischer Literatur, oft in der Originalsprache. Damit durchbrach sie zeitgenössische Rollenerwartungen.

Als selbstständige Frau stand sie der Ehe eher kritisch gegenüber, doch sie hoffte so den Einschränkungen zu entkommen, die sich durch ihre jüdische Herkunft ergaben. Am 27.09.1814 heiratete sie Karl August Varnhagen von Ense. Am gleichen Tag ließ sich Rahel taufen. Dies stellt den Versuch dar, sich in die Mehrheit der Gesellschaft zu integrieren. Die Konversion war auch eine Reaktion darauf, dass sich streng konservative Romantiker wegen ihrer Herkunft von ihr abwandten. Wenig später rütteln die restaurativen Beschlüsse des Wiener Kongresses an den Bürgerrechten für Juden, die in der napoleonischen Zeit verliehen worden waren.

Rahel Varnhagen als getaufte Jüdin

Für Rahel ist die jüdische Geburt ein Dorn im Auge, ein Schicksal, dem sie zu entrinnen versucht. Mit ihrer Hochzeit wechselt sie zum protestantischen Glauben.
Auch die Gründung ihres Salons kann als Versuch verstanden werden, der jüdischen Isolation zu entkommen. Denn Salons waren ja ein Ort, in dem es nicht auf gesellschaftliche Grenzen ankamen, in denen Juden ungestört mit Christen oder Atheisten philosophieren konnten, ein Ort, der alle Konventionen auflöste.
Die „Schmach“ ihrer jüdischen Geburt erschwert auch ihre ersten Ehejahre, da sie, als getaufte Jüdin, nicht an den badischen Hofe eingeladen wird, wo ihr Mann als Diplomat tätig ist.
In ihren letzten Lebensjahren wird Rahel immer religiöser. Sie las Werke tief religiöser, mythischer und spiritueller Autoren, wie Saint-Martin und Angelus Silesius. Nach ihrem Tod erschien der Band „Ueber Rahels Religiosität“ von Wilhelm Neumann und ihrem Ehemann.
Den Traditionen und Regeln des Judentums kann Rahel auch später nichts abgewinnen. Doch wird sie „grenzenlos traurig“, wenn sie von Übergriffen auf die jüdische Bevölkerung erfährt. Durch die wachsenden Anfeindungen, die z. T. aus dem Wiener Kongress hervorgehen, wandelt sich die Scham in eine Art Stolz der jüdischen Identität. Sie sieht auch das nationalistische Gedankengut vieler Romantiker sehr kritisch und erkennt die Gefahr.

Kurz vor ihrem Tod gesteht sie:

"Was so lange Zeit mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin zu sein, um keinen Preis möchte ich das jetzt missen."

Rahel Varnhagen und das "Junge Deutschland"

Das „Junge Deutschland“ schließt einen Teil der literarischen Richtung des Vormärz ein. Viele der dort vertretenen Autoren und deren Werke wurden 1835 verboten, da sie zu revolutionäres Gedankengut verbreiteten. Sie sind die Gegenbewegung zum Rückzug ins Private, als Reaktion auf den Konservatismus und die Bestimmungen des Wiener Kongresses. Die Menschen versuchten zu rebellieren und zu protestieren. Sie forderten Freiheit und Selbstbestimmung. Bekannte Autoren sind zum Beispiel Georg Büchner und Heinrich Heine.

Der Denkerklub. Karikatur als Reaktion auf die Karlsbader Beschlüsse, Federlitographie, um 1819

Auch Rahel forderte Freiheit für sich selbst und für andere. Sie protestierte gegen die gesellschaftlichen Einschränkungen und Konventionen. Dies lässt sich unter anderem in ihrer Haltung gegenüber der traditionellen Ehe erkennen. „Ist intimes Zusammenleben, ohne Zauber und Entzücken, nicht unanständiger, als Ektase irgendeiner Art?“ schreibt sie.
Viele Vertreter des „Jungen Deutschland“ sahen Rahel als Verkörperung all ihrer Ideale. Der Schriftsteller Theodor Mundt sieht in ihr einen „mitempfindenden Nerv ihrer Zeit“.

Heinrich Heine: Ich hatte einst ein schönes Vaterland
1832

Ich hatte einst ein schönes Vaterland.
Der Eichenbaum
wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft -
es war ein Traum.
Das küßte mich auf deutsch und sprach auf deutsch
(man glaubt es kaum,
wie gut es klang) das Wort: "Ich liebe dich" -
es war ein Traum.

Berliner Ehrengrab des Ehepaars Varnhagen Gedenktafel am Haus Jägerstraße 54–55, in Berlin-Mitte

Foto li.: Z thomas / CC BY-SA
Foto re.: Axel Mauruszat /
CC BY 2.0 DE

"Rahel war […] eine Blume mit Bewusstsein, ausgestattet mit dem wärmsten, überschwänglichsten Gefühl und dem dankbar schärfsten Intellekt […] Rahel, die Intellektuelle, konnte analysieren, assoziieren, reflektieren, kritisieren, philosophieren; ihre Begabungen entfalten sich im Dialog, ihre Ausdrucksform war und blieb der Brief."
(Carola Stern, 1994, S.129)

gestaltet von Chantal P. im Schuljahr 2019/2020