Lew Trotzki

Lew Dawidowitsch Bronstein, genannt Leo Trotzki (um 1929)

Lew Dawidowitsch Trotzki ist in die sowjetische Geschichte als der größte Gegenspieler Stalins eingegangen, obwohl sich die Wege der beiden Männer in Wirklichkeit nur selten gekreuzt haben. Trotzki hatte sich im Kampf um die Parteiführung bereits ausmanövriert, bevor die entscheidende Phase in Stalins Machtaufstieg überhaupt begann. Jahrzehntelang wurde den Sowjetbürgern eingetrichtert, Trotzki sei eine Inkarnation des Bösen, und selbst nach Stalins Tod blieb seine politische Rehabilitierung noch lange undenkbar. Auch in der Glasnost-Ära blieben seine Person und seine historische Rolle sehr umstritten. Die folgende Kurzbiografie stellt sein schwieriges Leben dar:

  • 1879: 7. November: wird als Lew Dawidowitsch Bronstein in Janowka (Ukraine) als 5. Kind des jüdischen Bauern David Bronstein geboren.
  • 1886 Besuch der deutsch-jüdischen Schule (Cheder) in Gromokley
  • 1888 Besuch der deutsch-lutherischen Schule in Odessa
  • 1897 Abitur in Nikolajew und Gründung des „Südrussischen Arbeiterbundes“
  • 1898 Wegen Verbreitung verbotener politischer Bücher Inhaftierung im Gefängnis von Odessa
  • 1899 Verurteilung zu 4 Jahren Verbannung in Sibirien und Überführung ins Etappengefängnis Moskau, intensive Beschäftigung mit Marxismus
  • 1900 Heirat mit Alexandra Lwowna Sokoloskaja, Geburt der ersten Tochter
  • 1902 Geburt der zweiten Tochter, Flucht nach Irkutsk, später nach London, Annahme des Namens Trotzki
  • 1902 - 1905 Zusammenarbeit mit Lenin in London,
  • Heirat der zweiten Frau Natalja Sedowa
  • 1905 Nach dem Petersburger Aufstand: Reise nach St. Petersburg, Vorsitzender des Sowjets, im Dezember: Verhaftung der Sowjetregierung
  • 1906 Verurteilung zu lebenslänglicher Verbannung in Sibirien, Geburt des ältesten Sohnes
  • 1907 Flucht nach Deutschland, Geburt des zweiten Sohns,
  • 1910 Konflikt mit Lenin
  • 1914 Aufgrund des Kriegs Übersiedlung in die Schweiz
  • 1915 Verfassung des Manifestes für die „Internationale sozialistische Konferenz“, Aussöhnung mit Lenin
  • 1917 Nach Ausbruch der Russischen Revolution Rückkehr nach St. Petersburg und Beitritt in die Bolschewiki; Oktober: Vorsitzender der Petersburger Sowjets und Organisation der Roten Garde, nach Machtübernahme der Bolschewiki Volkskommissar für Äußeres, Dezember: Friedensverhandlungen mit Deutschland in Brest-Litowsk
  • 1918 - 1920 Kriegskommissar und Vorsitzender des Obersten Kriegsrates, Organisation der Offensive gegen Bürgerkrieg an den Fronten, Aufstellung von Arbeiterarmeen gegen konterrevolutionäre Kräfte
  • 1920 Proklamation des „nationalen Kriegs“ gegen Polen
  • 1921 Niederschlagung der Matrosenrevolte in Kronstadt
  • 1924 Tod Lenins, Jossif Stalin betreibt Isolierung Trotzkis innerhalb der Partei und veröffentlicht eine Kampagne gegen ihn
  • 1925 Austritt aus Kriegskommissariat - praktische Entmachtung
  • 1926 Ausschluss aus dem Politbüro, Widerstand der trotzkistischen Opposition
  • 1927 Ausschluss aus der kommunistischen Partei der Sowjetunion (KpdSU)
  • 1928 Verbannung mit anderen Trotzkisten nach Mittelasien (Alma-Ata), Stalin fordert Ausweisung Trotzkis
  • 1929 Ausweisung in die Türkei , Verfassung autobiografischer Schriften („Mein Leben“, „Geschichte der Russischen Revolution“), Alleinherrschaft Stalins
  • 1930 trotzkistische Opposition Russlands bricht zusammen
  • 1933/34 Aberkennung der russischen Staatsbürgerschaft, Verfolgung als Gegner der stalinistischen Alleinherrschaft durch russischen Geheimdienst, Umzug nach Frankreich
  • 1937 Nach zweijährigem Aufenthalt in Norwegen Umzug nach Tampico (Mexiko)
  • 1939 Ausbau eines Hauses in Coyoacan zur Festung, Arbeit an Biografien zu Lenin und Stalin
  • 1940 Verfassung des Testament, Überleben eines ersten Anschlags des russischen Geheimdiensts; 20. August: Jacson-Mercader schlägt auf Trotzki mit einem Eispickel ein.
  • 21. August Trotzki stirbt und seine Leiche wird verbrannt.
Trotzki (4. v. l.) zusammen mit Stalin (3. v. r.) als einer der Sargträger bei der Beerdigung von Felix Dserschinsk, 1926 / Public domain

Die sozialpolitische Einstellung Trotzkis

Vor der Gründung des "Südrussischen Arbeiterbundes" stand Trotzki hauptsächlich populistischen, liberalen Ideen nahe. Zu dieser Zeit waren seine Anschauungen noch weit von marxistischen Ideen entfernt. Dazu sagte er nach der Oktoberevolution: "Im Jahre 96 und Anfang 97 hielt ich mich für einen Gegner von Marx, dessen Bücher ich allerdings nicht gelesen habe." Er verhielt sich zum größten Teil gleichgültig gegenüber der Theorie des Marxismus, wehrte sich nur gegen Unterdrückung durch die bestehende Zarenherrschaft und gegen das aristokratische System. Diese ungefestigten wagen Ideen änderten sich schlagartig während seines ersten Gefängnisaufenthalts (1898). Dort beschäftigte er sich intensiv mit der marxistischen Theorie und übernahm sozialistische Grundhaltungen. Nach den Worten von Siw (ein im gleichen Fall Verurteilter) wurde Trotzki in dieser Zeit zu "einem genauso entschlossenen und geradlinigen Marxisten, wie er vorher Gegner des Marxismus war." Diese Einstellung wurde kurze Zeit später durch Lenin noch vertieft. Im Exil als Journalist im Dienste Lenins tätig, wurde er mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands bekannt. Die Auffassung dieser Partei stimmte oberflächlich mit seinen eigenen überein, sodass er schnell an Parteitagen teilnahm. Als sich die SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands) auf ihrem zweiten Kongress in Bolschewiki (Mehrheitler) und Menschewiki (Minderheitler) spaltete, schloss sich Trotzki zunächst den Bolschewiki an. Diese waren der Auffassung, dass die Partei streng zentralistisch im Untergrund agieren solle. Die Menschewiken jedoch hatten den Grundsatz, dass die Partei eine lockere Zusammenfassung aller teilnehmenden Kräfte sein solle.

Im Laufe der Jahre wechselte Trotzki ständig die Seiten, versuchte jedoch ständig den Kontakt zu beiden Parteien zu erhalten. Trotzki konnte also keinen festen Entschluss zum Parteiaufbau fassen.

Jedoch war seine Meinung zu den Trägern einer eventuellen Revolution sehr klar: Während Menschewiki das liberale Bürgertum Russlands unterstützten, blieben die Bolschewiki auf der Seite der Arbeiter- und Bauernschaft. Trotzki dachte in diesem Punkt bolschewistisch: Er war davon überzeugt, dass nur die Arbeiter und Bauern demokratische Ziele und Rechte durchsetzen können. Jedoch konzentrierte er sich dabei mehr auf die Arbeiterschaft. Dies begründet er dadurch, dass die Bauern nicht wie die Arbeiter eine einzige Klasse repräsentieren, es können Teile der Bourgeoisie und andere dem Proletariat angehören. Deshalb können nur die vereinigten Arbeiter wirklich eine Revolution durchführen.

Kurz darauf nahm er die Auffassung an, dass diese Revolution nur auf sozialistischer Basis, das heißt den Kapitalismus zerstörend, und nicht auf bürgerlicher Basis ablaufen kann. Ein kapitalistisches Russland mit Arbeiterherrschaft könne im Weltmarkt nicht überleben.
Nach der erfolgreichen Oktoberrevolution herrschten in Russland viele Missstände und ein Kommunismus der Armut. Es folgte eine zunehmende Bürokratisierung der neu gegründeten KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion). Diese Bürokratisierung verschaffte einigen Vertretern der Führungsschicht extreme Privilegien. Dagegen wehrte sich Trotzki zusammen mit Lenin entschieden und bildete eine linke Opposition heraus. Einer der Hauptpunkte dieser Opposition war die Theorie der "permanenten Revolution". Trotzki war der Auffassung, dass die Sowjetunion als einziger sozialistischer Staat in der kapitalistischen Welt nicht bestehen könne. Er forderte somit den Übergang der sozialistischen Revolution zunächst auf die Nachbarstaaten, dann auf die Welt. Diese Idee unterschied sich maßgeblich mit der Stalins, der den "Sozialismus im eigenen Land" sichern und nur dort ausbauen wollte.

Trotzki - der Begründer des Trotzkismus - war berühmt dafür, die gesellschaftliche Entwicklung in einem Land aus internationaler Sicht zu sehen. Somit konnte er die Ereignisse nicht nur analysieren, sondern auch Perspektiven und Handlungsanweisungen als Ausweg entwickeln. Er war der erste, der die wirkliche Bedrohung durch den Stalinismus und den deutschen Nationalsozialismus erkannte und in zahlreichen Schriften gegen diese Entwicklung aufrief. Er war z.B. der Meinung, dass nur ein kurzfristig geplanter Angriff die Machtergreifung Hitlers und der Nationalsozialisten verhindern könne. Längerfristig geplante Projekte würden die Bedrohung zu spät angreifen und würden zur Zerschlagung des Kommunismus führen. Jedoch nahmen politisch mächtige Personen, wie u.a. Stalin, diese Warnung nicht ernst, bzw. verbündeten sich mit Hitler. Es ist offensichtlich, dass Trotzki stets nur die Warnungsstellung inne hatte, zu selten jedoch die politische Macht, um wirklich handeln zu können.

Der Jude Trotzki

Trotzki (Mitte) kurz vor seinem Tod / Public domain

Die jüdische Herkunft Trotzkis, ein Umstand, der im zaristischen Russland für viele unüberwindliche Schwierigkeiten mit sich brachte, wirkte sich für Trotzki zunächst nicht negativ aus. Der Vater versuchte nie, seine Kinder in die kleine Welt des Schtetl einzuschließen. Auf der anderen Seite war die Familie Bronstein äußerlich sehr fromm, sie fuhren an hohen Feiertagen regelmäßig meilenweit, um die Synagoge zu besuchen. Am Sabbat wurde nicht gearbeitet, ja man weigerte sich sogar das eigene kranke Kind zum Arzt zu fahren. In dieser Familie war es einfach selbstverständlich an Gott zu glauben.
Begründet durch dieses Religionsverständnis gab man Trotzki auch bald zumindest die Grundsätze einer jüdischen Ausbildung. Er wurde in einem Cheder in Janowka eingeschult und dort in den Fächern Russisch, Arithmetik und Bibel-Hebräisch unterrichtet.
Nach dem Besuch des Gymnasiums schätzte Trotzki seine Familie nur noch als heuchlerisch ein. Der Vater habe schon früh aufgegeben, den Schein zu wahren, dass er an Gott glaube. Die Mutter verrichtete nur äußerlich keine Arbeit am Sabbat. Diese Scheinfrömmigkeit erkannte der junge Jude aber erst nach dem längeren Aufenthalt in der Hafenstadt Odessa, wo er eine Assimilierung an das dortige Bürgertum erfahren hat. Dazu kam es vor allem durch die Beschäftigung mit weltlichen Themen, wie Politik und Wirtschaft. Ab diesem Zeitpunkt begann er, seine Religion aus einer anderen Sicht zu sehen. Er wandte sich vom orthodoxen Judentum des Schtetls ab und trat für ein weltoffenes, assimiliertes Judentum ein.

Diese Haltung wurde verstärkt, als er begann, sich mit den Theorien des Sozialismus zu befassen. Natürlich bezog er sich in seinen Ansichten vor allem auf die jüdischen Arbeiter. In einem Interview mit der amerikanischen Zeitung "Class Struggle" vom Februar 1934 wird seine Meinung zum Judentum am besten deutlich.

Zunächst stellt er dar, dass die Juden - besonders die Arbeiter - auch von der sozialistischen Revolution betroffen sind und sich im besonderen Maße wandeln müssen, um diese Revolution möglich zu machen: Sie sollten offener gegenüber den Problemen der anderen Arbeiter im Land sein und neben ihrer jiddischen Sprache auch die jeweilige Landessprache übernehmen. So könnten sie erheblich am Erfolg der Revolution teilhaben und sie mit ihrer großflächigen Verteilung über die Welt effektiv unterstützen. So gesehen ist Leo Trotzki ein "Assimilierer" und tritt für das aufgeklärte Judentum ein.
Dabei zeigt er sich als extremer Gegner der jüdischen Selbstisolation. Er ist gegen die kleine isolierte Welt des Schtetls sowie gegen die extreme Variante des Zionismus.

Außerdem zeigt er auf, dass die jüdische Frage (Existenz des Judentums als autarke Nation) nicht im Kapitalismus gelöst werden kann. Das Judentum kann folglich nur im Sozialismus erlöst werden. Deshalb fordert er die Juden zur Teilnahme an der sozialistischen Revolution auf, um ihre Religion zu wahren und zu erlösen.
Man erkennt in diesem Interview, dass Leo Trotzki in seinen späteren Jahren seine Religion nur noch aus politischer Sicht sieht und den Bezug zur Religiosität an sich verloren zu haben scheint. Jedoch ist er bis an sein Lebensende Jude geblieben. Und obwohl seine Gegner, wie Stalin, den Fakt seiner Religion als Grund für Verfolgung und Verbannung gesehen haben, blieb er seiner Religion treu.

verfasst von: Julius E.
Wahlgrundkurs „Jüdische Geschichte und Kultur“ 2001/2002

Quellennachweis:

Carmicheal, Joel: "Trotzki - Die Revolution frißt ihre Väter", Heyne-Verlag
Trotzki, Leo: "Stalins Verbrechen", Dietz Verlag Berlin
Trotzki, Leo: "Mein Leben"
"Unpersonen - Wer waren sie wirklich?", Dietz Verlag Berlin