Rolle der Frau
Die Rolle der Frau im Judentum zu definieren ist nicht leicht. Dies erschwert es, einen Text zu dieser Thematik zu verfassen, der der tatsächlichen Situation gerecht wird und sachlich korrekt ist. Sicher ist, dass aus jüdischer Sicht beide, Mann und Frau gleichermaßen als Gottes Ebenbild geschaffen wurden, ihnen aber die Verantwortlichkeit für unterschiedliche Lebensbereiche zugeteilt wurde.
Auf diesem Gebiet des Judentums hat sich, wie in anderen Religionen auch, über die vergangenen Jahrhunderte hinweg vieles verändert, zuletzt durch die durch die Emanzipationsbewegungen der letzten Jahrzehnte. Hier ist die Einführung der Bat Mizwa-Feier zu nennen, die in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts auch in der Orthodoxie Einzug hielt, ebenso wie Rabbinerinnen in der modernen Orthodoxie (z.B. Rabba Sara Hurwitz in den USA). Ein deutlich aktuelleres Beispiel dafür sind die „Women oft the Wall“, die dafür eintreten, dass Frauen mit Torarolle, Tallit, Tefillin und Kippa an der Klagemauer beten dürfen, wie es in der Orthodoxie den Männern vorbehalten ist. Dieses Recht haben sie sich nun erkämpft.
Natürlich gibt es noch Unterschiede in den Zuständigkeitsbereichen zwischen Mann und Frau. Jedoch läuft das voreingenommene Bild der dem Ehemann unterlegenen Jüdin, die die Pflicht hat, ihm zuzuarbeiten und Kinder zu gebären, völlig fehl. Man kann im Judentum nicht von einer Dominanz eines der beiden Geschlechter sprechen. Natürlich sind sie verschieden. Beiden werden unterschiedliche Privilegien und Pflichten zuteil. So vertreten beispielsweise die Männer ihre Familie beim Gottesdienst innerhalb der Synagoge.
Frauen waren gerade in früherer Zeit durch ihre Aufgaben als Mutter und Hausfrau, im Gegensatz zu den Männern, nicht zur konsequenten Einhaltung des Studiums verpflichtet. Ihnen oblag stets die Verantwortung für rituelle Pflichten, die das Ehe- und Familienleben betreffen. In manchen strikt patriarchalischen Gesellschaften wurde Frauen das Studium verwehrt. Dies war aber eine soziale Norm, die nicht aus den Schriften begründet werden konnte und bestand nicht überall und auch nicht zu allen Zeiten.
Die Frau hat die Hoheit über die Reinheit der Ehe. Der Vollzug der Ehe gilt als religiöse Handlung und ist nach Rabbi Kahana gar als ein Stück Tora zu sehen. Dazu darf sie niemals gezwungen werden. Wenn eine jüdische Frau schwanger ist und es geht um Gefahr für Leib und Leben, steht immer das Leben der Frau im Vordergrund. Auch Geburtenregelung war erlaubt und wurde der Frau überlassen.
Sie zündet die Kerzen am Sabbat an, bevor er beginnt und läutet damit den heiligsten Tag ein. Darüber hinaus ist sie diejenige, die das Sabbatbrot backt. Die Frau wacht darüber, dass die Nahrung im Haus koscher ist, so wie es den Vorschriften entspricht und bringt den Kleinkindern traditionell auch die Gebete und die Buchstaben bei, bevor die Kinder in die Obhut eines Lehrers oder des Vaters übergeben werden. Sie ist die Wurzel des Jüdischen. Frauen sind ganz aktiv in der Gemeinschaft und führen Krankenbesuche durch. Das sind alles heilige Handlungen, bei denen der Frau eine große Bedeutung zukommt. Seit der Aufklärung haben sich unterschiedliche Formen nicht-orthodoxen Judentums entwickelt.
Heute kennen wir das Reformjudentum, das konservative Judentum, die Rekonstruktionisten und die Liberalen. Diese Richtungen haben die Aufgabenteilung der Geschlechter aufgegeben. Frauen und Männer haben auch im Religiösen gleiche Pflichten. Inzwischen gibt es auch verschiedene Erneuerungsbewegungen, die entweder die orthodoxen oder die liberalen Regelungen befolgen.
Die Bibel verbietet Frauen nicht, gemeinschaftlich zu beten, Texte in der Synagoge zu lesen oder einen Tallit zu tragen. Im Talmud gibt es auch bestimmte Rabbiner, die das immer betont haben. Sie dürfen das alles. Aber das Brauchtum in den Regionen war paternalistisch und dadurch ergab sich eine Vormachtstellung der Männer, die somit die Tendenzen bestimmt haben und darüber entschieden, wie viele Rechte die Frauen erhielten.
Gleichwohl hatten jüdische Frauen immer in der Tora verankerte Rechte, die viel Selbstbestimmung ermöglichten und ihren Status als Partnerin des Mannes sicherten, was in der Zivilgesetzgebung bis in die siebziger Jahre sogar in Deutschland überwiegend nicht der Fall war.
Foto: Michal Patelle / CC BY-SA
Auf die Frage nach möglicher Benachteiligung der Frauen antwortete die Jüdin Alexa Brum, der wir für ihre große Hilfe an dieser Stelle danken möchten, im Interview wie folgt: „Es ist so, dass die orthodoxen Frauen keine Benachteiligung wahrnehmen, da sie mit der halachisch festgelegten Aufgabenteilung einverstanden sind. Ich persönlich sehe schon Benachteiligungen. Es gibt m. A. n. Bereiche, mit denen sich die Rabbinatsgerichte beschäftigen und bestimmte halachische Regeln verändern sollten, was aber sehr schwer ist, da wir kein oberstes religiöses Gericht, den Sanhedrin, mehr haben, der Gesetze ändern könnte. Das ist nicht nur so, weil Männer ihre vermeintlichen Vorrechte (es handelt sich ja ausschließlich um Verpflichtungen) nicht aufgeben wollen, sondern, weil sie die religionsgesetzliche Grundlage so interpretieren, dass bestimmte Dinge nicht sein dürfen. Das ist bei unserer Orthodoxie auch immer noch so. Religiöse orthodoxe Frauen sehen das überhaupt nicht als Benachteiligung. Sie sagen, dass sie absolut gleichberechtigt sind.“
Für alle jüdischen Frauen und besonders für orthodoxe Frauen gilt es als großes Privileg, Kinder zur Welt zu bringen und im Hause das Sagen zu haben. Es gibt im Tanach das „Lob des wackeren Weibes“. Jeder jüdische Mann singt am Freitagabend, wenn er von der Synagoge nach Hause kommt, das Loblied Eschet chajl. Darin wird eine Frau beschrieben, die Haus und Hof vollkommen autonom führt, ihre Kinder erzieht, ihre Mägde führt, leitet und betreut, ihre eigene Wirtschaft hat und die eigenen Waren auch selbst verkauft. Das ist ein Text, der vor 2500 Jahren entstanden ist. Orthodoxe Frauen haben dieses Bild als Selbstbild vor sich. Es vermittelt Stolz und sie werden dadurch auch von ihren Männern wertgeschätzt und beachtet. Sie ziehen daraus so viel Selbstbewusstsein, dass die Aufgaben des Mannes, der das Schrifttum lernen muss, sich mit intellektuellen Fragen beschäftigen und bestimmte Aufgaben im Allgemeinwesen wahrnehmen muss, keine Konkurrenz darstellt, sondern es sich um eine sinnvolle Rollenteilung handelt. Jeder wird gleichermaßen geachtet und ist stolz auf den anderen und dessen Tätigkeit.
Beide Ehepartner haben gegenseitig die Pflicht, sich zu lieben, sich beizustehen, gemeinsam ihre Kinder großzuziehen und zu Gottes Ehre zu leben. Ein glückliches Eheleben gilt als wichtig. So verspricht z.B. der Mann im Ehevertrag, der seit mehr als tausend Jahren unverändert ist, der Frau u.a. sexuelle Erfüllung. Wenn das Zusammenleben nicht funktioniert, gibt es im Schrifttum vielerlei hilfreiche Tipps, die wir heute als Eheberatung bezeichnen können. Wenn auch das nicht hilft, dürfen sich die Paare scheiden lassen.
Es wird teilweise angeprangert, dass Frauen und Männer in der Synagoge getrennt sind. Dieser orthodoxe Kultus wird heute in den meisten Einheitsgemeinden durchgeführt. Es geht mehr darum, dass Frauen und Männer sich nicht gegenseitig ablenken. Die Frauen sollen die Männer nicht beim Gebet stören oder dadurch beschämen, dass sie ggf. besser beten können. Es ist ein Brauch, das keine Zurücksetzung sein soll.
Frau Brum schätzt dies folgendermaßen ein: „Es fängt jetzt erst wieder an, dass es da Öffnung gibt. Ich kann heute jederzeit in eine liberale Synagoge gehen und dort ein Stück aus der Thora lesen, was ich auch schon gemacht habe, fühle mich persönlich aber im modernen orthodoxen Ritus heimischer, unabhängig davon, dass ich manches kritisch sehe. Schon biblisch ist klar: Alle werden zum Gebet gerufen und Frauen dürfen sogar vorlesen.“
Es wird deutlich, dass Frauen entgegen des landläufigen Bildes eine Säule des Judentums sind und keineswegs als unterdrückt gelten können. Vielmehr tragen sie viel Verantwortung, haben selbstbewusst an der Gesellschaft teil und die Geschlechter ergänzen sich in ihren Aufgaben. Weiterhin wird die Religionszugehörigkeit über die Mutter weitergegeben.
Die vorhandene Gleichberechtigung wird je nach Auslegung unterschiedlich interpretiert, die sich aber durch die Pluralität im Judentum auch in unterschiedlichen Definitionen der Aufgabenbereiche äußert. In den liberalen Strömungen des Reformjudentums sind Frauen absolut gleichberechtigt und können zum Beispiel durchaus selbstverständlich Rabbinerinnen sein. Im liberalen Judentum bestand schon 1935 mit Regina Jonas die erste Frau die Prüfung als Rabbinerin. Diese Entwicklung wurde durch die Schoah unterbrochen. So wurde im Reformjudentum erstmals 1972 wieder eine Frau, Sally Priesand, als Rabbinerin ordiniert.
Außenstehende müssen akzeptieren, dass, je nach Auslegung, die verschiedenen Rollen von Mann und Frau im Judentum ein gegebener Umstand sind, der sich auf Tradition begründet. Mittlerweile wird auch im orthodoxen Judentum die Möglichkeit gesucht, die Rolle der Frau im Rahmen der jüdischen Gesetzgebung auszuweiten. Dies geschieht beispielsweise in Form von „Schiedsgerichten“.
gestaltet von Felix Benjamin A. und Cornelius Martin S. im Schuljahr 2016/2017
Interview zur Rolle der Frau im Judentum
mit Frau Alexa Brum, von 1992 bis 2014 Direktorin der Lichtigfeld-Schule in Frankfurt a.M.
Wo sehen Sie besonders Unterschiede zur Auffassung der Rolle der Frau in den verschiedenen Strömungen des Judentums?
Dazu müssen wir die Rolle der Frau im Judentum erst einmal allgemein sehen. Allgemein, von der Schöpfung her, sind alle Menschen gleich geschaffen. Im Anfang gab es ja auch noch keine Juden und Nichtjuden. Mann und Frau wurden gleich geschaffen in ihrer Ebenbildlichkeit zu Gott, weil Gott eben beides, männlich und weiblich, in sich vereint. Gott ist keinesfalls eine männliche Figur. Es wurde ein männliches Menschenwesen geschaffen und das kann nicht vollständig sein, wenn ihm nicht ein weibliches Menschenwesen zur Seite steht. Im Judentum haben beide unterschiedliche Aufgaben, um sich gegenseitig zu ergänzen.
Die Vorstellung, dass die Frau nur als Eigentum des Mannes betrachtet wird, die die Pflicht hat, ihm zuzuarbeiten und Kinder zu gebären, stimmt absolut nicht. Sie haben beide gegenseitig die Pflicht, sich zu lieben, sich beizustehen, aber sich auch sexuelle Freuden zu schenken. So verspricht z.B. der Mann im Ehevertrag, der seit mehr als tausend Jahren unverändert ist, der Frau sexuelle Erfüllung. Wenn das nicht klappt in einer Ehe, gibt es im Schrifttum vielerlei hilfreiche Tipps, die wir heute als Eheberatung bezeichnen können. Wenn es aber immer noch nicht klappt, dürfen sich die Paare auch scheiden lassen.
Es stimmt, dass das Ideal der Gesellschaft die Familie ist, die dann als vollständig gilt, wenn man gemeinsam Kinder hat, die man auch gemeinsam großzieht. Es geht nicht darum, viele Kinder zu gebären.
In der Ultraorthodoxie haben die meisten Familien viele Kinder, was für orthodoxe Ausprägungen anderer Religionen auch gilt. Die Norm im Judentum ist, dass man mindestens ein Mädchen und einen Jungen zur Welt bringen sollte. Mehr Kinder sind ein Segen. Vater und Mutter werden irgendwann aus dieser Welt scheiden und dann hinterlassen sie eine Frau und einen Mann, sodass die Menschheit erhalten bleibt.
Wo liegt dort nun der Unterschied zwischen den Strömungen?
Wir haben im Judentum als Lebensgrundlage die Thora, die uns die Richtung vorgibt für ein gottgefälliges Leben. Danach sollen wir uns richten. Das Ziel ist Tikkun Olam, das heißt Heilung der Welt. Gott hat uns eine Welt geschenkt und unsere Aufgabe ist es, diese Welt so zu gestalten, dass Mensch, Natur, alles Leben auf der Erde erhalten bleibt, gedeiht und Frieden entsteht.
Welchen Weg zur Heilung dieser Welt wir konkret gehen sollen, kann man allein aus der Thora nicht ablesen. Es bedarf der Auslegung der Schrift. Im Judentum hat sich sehr früh neben der schriftlichen Lehre der Thora eine Interpretationslehre, die sog. mündliche Tora ergeben. Ohne Wissen kann man nicht angemessen diskutieren. Deshalb gibt es seit jeher die Pflicht, die Schriften zu studieren und zu diskutieren, welche konkreten Lebensregeln sich daraus ableiten lassen und eine auf die jeweilige Zeit bezogene Interpretation im Rahmen der vorgegebenen Gesetze zu suchen. Dabei gilt immer der Mehrheitswille und -beschluss. Diese regelmäßige Pflicht zum Studium bestand immer für Männer. Frauen waren durch ihre Aufgaben als Mutter und Hausfrau nicht zur konsequenten Einhaltung des Studiums verpflichtet. Ihnen oblag stets die Verantwortung für rituelle Pflichten, die das Ehe- und Familienleben betreffen. In manchen strikt patriarchalischen Gesellschaften wurde Frauen das Studium verwehrt. Dies war aber eine soziale Norm, die nicht aus den Schriften begründet werden konnte und bestand nicht überall und auch nicht zu allen Zeiten.
Mit der Zeit entwickelte sich eine Fülle von gesetzlichen Vorgaben, die im 16. Jahrhundert durch Josef Karo vereinheitlicht und in einem umfassenden Gesetzeskodex, der Halacha, zusammengefasst wurden. Bezüglich der konkreten Umsetzung im Alltag haben sich auch hier wieder unterschiedliche Richtungen gebildet. So gibt es die jüdische Orthodoxie, von denen besonders die kleine Gruppe der der Alt-Orthodoxie durch ihre Kleidung auffällt, während moderne orthodoxe Juden sich äußerlich gar nicht von ihrem gesellschaftlichen Umfeld unterscheiden, allenfalls dadurch, dass die Männer eine Kippa tragen. In diesen Gruppen gilt noch die hergebrachte Aufgabenteilung der Geschlechter.
Seit der Aufklärung haben sich unterschiedliche Formen nicht-orthodoxen Judentums entwickelt. Heute kennen wir das Reformjudentum, das konservative Judentum, die Rekonstruktionisten, die Liberalen und verschiedene Erneuerungsbewegungen. Diese Richtungen haben die Aufgabenteilung der Geschlechter aufgegeben. Frauen und Männer haben auch im Religiösen gleiche Pflichten. Inzwischen gibt es auch verschiedene Erneuerungsbewegungen, die entweder die orthodoxen oder die liberalen Regelungen befolgen.
Kann ich zusammenfassend sagen, es gibt nicht DAS Frauenbild im Judentum?
In der Vergangenheit wurde es weitgehend von Männern ausgelegt, wie in den umgebenden Gastgesellschaften auch. Es gab auch früher schon Zeiten, in denen sich das Bild lockerte und Frauen eine größere Rolle spielten. In diesen Zeiten wurden auch Frauen an den Diskussionen beteiligt. Von Raschi wird überliefert, dass er seine drei Töchter unterrichtete und sie hoch gelehrt waren. Sie haben an der Diskussion zum Talmud-Kommentar teilgenommen. Die Bibel verbietet Frauen nicht, gemeinschaftlich zu beten, Texte in der Synagoge zu lesen oder einen Tallit zu tragen. Im Talmud gibt es auch bestimmte Rabbiner, die das immer betont haben. Sie dürfen das alles. Aber das Brauchtum in den Regionen war paternalistisch und dadurch ergab sich eine Vormachtstellung der Männer, die somit die Tendenzen bestimmt haben und darüber entschieden, wie viel Rechte die Frauen bekommen. Diese gesellschaftspolitische Entwicklung betraf das Judentum wie alle umgebenden Religionen auch. Gleichwohl hatten jüdische Frauen immer in der Tora verankerte Rechte, die viel Selbstbestimmung ermöglichten und ihren Status als Partnerin des Mannes sicherten, was in den Gastgesellschaften und in der Zivilgesetzgebung bis in die siebziger Jahre sogar in Deutschland überwiegend nicht der Fall war.
Sehen Sie Benachteiligungen der Frauen gegenüber den Männern (und wenn ja, wo)?
Es ist so, dass die orthodoxen Frauen keine Benachteiligung wahrnehmen, da sie mit der halachisch festgelegten Aufgabenteilung einverstanden sind. Ich persönlich sehe schon Benachteiligungen. Es gibt m.E. Bereiche, mit denen sich die Rabbinatsgerichte beschäftigen und bestimmte halachische Regeln verändern sollten, was aber sehr schwer ist, da wir kein oberstes religiöses Gericht, den Sanhedrin, mehr haben, der Gesetze ändern könnte. Das ist nicht nur so, weil Männer ihre vermeintlichen Vorrechte (es handelt sich ja ausschließlich um Verpflichtungen) nicht aufgeben wollen, sondern, weil sie die religionsgesetzliche Grundlage so interpretieren, dass bestimmte Dinge nicht sein dürfen. Das ist bei unserer Orthodoxie auch immer noch so. Religiöse orthodoxe Frauen sehen das überhaupt nicht als Benachteiligung. Sie sagen, dass sie absolut gleichberechtigt sind. Der Mann hat verschiedene Bereiche, für die er zuständig ist, z.B. die Religion zu studieren. Die Männer haben zeitgebundene Pflichten, z.B. um zu bestimmten Zeiten zu beten und zu studieren. Frauen haben Pflichten, die nicht zeitgebunden sind, weil sie durch Schwangerschaft, Stillen, Versorgung der Kinder z.B. nicht einfach morgens um fünf aufstehen können, um ein Gebet zu verrichten, während das Baby gestillt werden muss. Deshalb haben Frauen andere Aufgaben, die sich auf den häuslichen Bereich beziehen. Männer und Frauen haben die Pflicht gegenseitig Partner zu sein, sich gegenseitig glücklich zu machen, ihre Kinder gemeinsam großzuziehen und gemeinsam Gott zu ehren. Das ist für sie überhaupt kein Unrecht, keine Benachteiligung.
Wo kommt den Frauen im religiösen Leben eine besondere Bedeutung zu? Wie wirkt sich die jüdische Auffassung vom gesamten Leben als Gottesdienst darauf aus?
Gott hat uns diese Welt geschenkt und hat uns mit der Thora ein Regelwerk geschaffen, das uns ermöglichen soll, dieses Leben im Sinne von Tikkun Olam zu gestalten. Dieses Geschenk hat Gott nach jüdischem Verständnis der Welt angeboten. Es gab dieses kleine Volk, das in der Wüste spirituell ausgehungert war und göttliche Führung angenommen hat. Dadurch, dass die Juden das angenommen haben, wurden sie erwählt, ein Beispiel zu geben, wie Gott sein Gesetzeswerk gemeint haben könnte. Dadurch sind sie weder besser noch schlechter als andere Menschen, haben aber damit die Aufgabe übernommen, exemplarisch zu leben. Und darum sind sie natürlich immer darauf bedacht, wie man richtig ein Beispiel geben kann. Die Grundlage ist, dass wir verpflichtet sind, zu Gottes Ehren zu leben und die Welt heil zu bewahren. Das umfasst Politik, menschliche Beziehungen, Umweltschutz, Nahrungsmittel, Recht,… Davon sind die Gesetze abgeleitet worden und die Halacha hat sich entwickelt.
Orthodoxe Frauen sehen es weiterhin als ein riesiges Privileg an, Kinder zur Welt zu bringen und im Hause das Sagen zu haben. Es gibt im Tanach das „Lob des wackeren Weibes“. Jeder jüdische Mann singt am Freitagabend, wenn er von der Synagoge nach Hause kommt, das Loblied Eschet chajl. Darin wird eine Frau beschrieben, die Haus und Hof vollkommen autonom führt, ihre Kinder erzieht, ihre Mägde führt, leitet und betreut, ihre eigene Wirtschaft hat und die eigenen Waren auch selbst verkauft. Das ist ein Text, der vor 2500 Jahren entstanden ist. Orthodoxe Frauen haben dieses Bild als Selbstbild vor sich. Es vermittelt Stolz und sie werden dadurch auch von ihren Männern wertgeschätzt und beachtet. Sie ziehen daraus so viel Selbstbewusstsein, dass die Aufgaben des Mannes, der das Schrifttum lernen muss, sich mit intellektuellen Fragen beschäftigen und bestimmte Aufgaben im Allgemeinwesen wahrnehmen muss, keine Konkurrenz darstellt, sondern es sich um eine sinnvolle Rollenteilung handelt. Jeder wird gleichermaßen geachtet und ist stolz auf den anderen und dessen Tätigkeit.
Die Frau hat die Hoheit über die Reinheit der Ehe. Der Vollzug der Ehe gilt als religiöser Akt. Dazu darf sie niemals gezwungen werden. Wenn eine jüdische Frau schwanger ist und es geht um Gefahr für Leib und Leben, steht immer das Leben der Frau im Vordergrund. Schon vor Urzeiten durfte dann abgetrieben werden. Auch Geburtenregelung war erlaubt und wurde der Frau überlassen. Das heißt, dass sie die Entscheidungsmacht darüber hat, wann man ehelichen Verkehr hat.
Sie zündet die Kerzen am Schabbat an, bevor er beginnt und läutet damit den heiligsten Tag ein. Das ist ganz wichtig, weil der Schabbat der heiligste aller Feiertage überhaupt ist. Darüber hinaus ist sie diejenige, die das Schabbatbrot, die Challah, backt, wovon ein Stück Teig abgezweigt und verbrannt wird. Dazu wird ein Segen gesprochen, in dem man Gott dankt. Das Schabbatbrot steht in seiner Bedeutung für die Heiligkeit der Nahrung, die Gott uns geschenkt hat. Die Frau wacht darüber, dass die Nahrung im Haus koscher ist, so wie es den Vorschriften entspricht. Gibt es keinen Mann in der Familie, kann sie alle anderen Gebete auch sprechen. Sie bringt den Kleinkindern traditionell auch die Gebete und die Buchstaben bei, bevor die Kinder in die Obhut eines Lehrers oder des Vaters übergeben werden. Sie ist die Wurzel des Jüdischen. Frauen sind ganz aktiv in der Gemeinschaft und führen Krankenbesuche durch. Das sind alles heilige Handlungen, bei denen der Frau eine große Bedeutung zukommt.
Es wird teilweise angeprangert, dass Frauen und Männer in der Synagoge getrennt sind. Bei einem Besuch einer Synagoge kam es mir allerdings nicht so vor, als hätte sich jemand darüber beschwert…
Das gilt für den orthodoxen Kultus, wie er in den meisten Einheitsgemeinden heute durchgeführt wird. Es geht mehr darum, dass Frauen und Männer sich nicht gegenseitig ablenken. Die Frauen sollen die Männer nicht beim Gebet stören oder dadurch beschämen, dass sie ggf. besser beten können. Es ist ein Brauchtum, das keine Zurücksetzung sein soll. Viele sehen das dennoch kritisch.
Im 19. Jahrhundert gab es in den Synagogen in Deutschland eine wunderbare Bewegung, dass man zu den offeneren, biblisch akzeptierten Formen zurückkehrt und die strikte Trennung aufweicht, weil es biblisch nicht so begründet werden kann. Diese Bewegung wurde durch die Shoah vollständig ausradiert und ist durch die Emigranten in England und Amerika weiterentwickelt worden. Die jüdische Gemeinde, die sich in Deutschland nach der Schoah neu entwickelt hat, wurde ja vor allem von Menschen aufgebaut, die osteuropäisch geprägt waren. Sie brachten den osteuropäischen, strenger auf Trennung ausgelegten, orthodoxen Ritus hierher, sodass wir, auch ich, in diesem Ritus groß wurden, der die Nachkriegszeit prägte.
Somit haben sich die offeneren Formen zunächst nicht weiterentwickeln können. Es fängt jetzt erst wieder an, dass es da Öffnung gibt. Ich kann heute jederzeit in eine liberale Synagoge gehen und dort ein Stück aus der Thora lesen, was ich auch schon gemacht habe, fühle mich persönlich aber im modern orthodoxen Ritus heimischer, unabhängig davon, dass ich manches kritisch sehe. Schon biblisch ist klar: Alle werden zum Gebet gerufen und Frauen dürfen sogar vorlesen. Im 13. Jahrhundert gab es in der Raschi-Synagoge in Worms eigene Gebetsräume für Frauen. Die Frauen hatten ihre eigenen Vorbeterinnen und Sängerinnen.
Wie schätzen Sie die Bewegung „Women of the Wall“ ein?
Es gibt kein Gebot, das sagt, dass Frauen vom Gebet ausgeschlossen werden. Es hat sich traditionell entwickelt, dass man sagt, die Frauen sollen leise für sich beten und nicht laut vorbeten, weil das die Männer beschämen könnte. Ein ganz wichtiges Gebot im Judentum ist, dass man nicht beschämen darf. Man darf auch nicht schlecht über einen Menschen reden, selbst wenn die negative Information stimmt, weil üble Nachrede einen Menschen töten kann. Wenn ich heute Nachrichten über Fakenews oder Mobbing höre, wünschte ich, alle Menschen würden dieses Gebot befolgen.
Ob das aber auch künftig zum Ausschluss von Frauen vom gemeinschaftlichen Gebet führen soll, wird zunehmend in Frage gestellt, auch von orthodoxen Frauen (nur die betrifft es wirklich). Die Women oft the Wall fordern jetzt für alle Frauen ein Recht auf Partizipation, d.h. auf einen Platz am Kotel (Klagemauer), wo sie mit der Torarolle, Kippa, Tallit und Tefillin beten können, wie die Männer. Die israelische Regierung hat nun entschieden, das gemeinsame Gebet an der Klagemauer sei nicht verboten und den Women oft the Wall einen eigenen Platz eingeräumt.
Um einen vollständigen jüdischen Gottesdienst abhalten zu können, ist ein Minjan, also ein Quorum von mindestens 10 religionsmündigen Juden, nötig. Nun werden ja auf der einen Seite Frauen nicht zum Quorum gezählt und auf der anderen Seite nicht vor Gericht gehört...
Das ist natürlich eine Benachteiligung und mit dem Quorum auch wieder eine Sache der Deutung und des Brauchtums. Dass Frauen nicht Richter werden können, hängt mit der Rollenverteilung zusammen, wie es auch in der Thora steht. Um Richter zu werden, gibt es ganz strenge Maßstäbe, ein ganz strenges Studium der Gesetze. Die Männer wurden durch ihre zeitgebundenen Pflichten zu diesem Studium bewegt. Den Frauen stand es ebenfalls offen, aber es war nicht ihre Pflicht. Das schloss ihre Fähigkeiten, Richterin zu werden, im Umkehrschluss aus. Zum anderen gab es im Altertum eine andere Weltsicht als heute. Im allgemeinen waren Frauen in ihrem Bereich mit Haus und Hof und der Bewältigung des Alltagslebens beschäftigt. Trotz dieser Autonomie war das intellektuelle Studium der Lebensbereich der Männer. Man sah Frauen als emotional, weniger kognitiv und weniger rational als Männer. Deshalb nahm man sie auch vom Zeugenstand aus. Bei mir selbst wurde zum Beispiel in einem rabbinischen Prozess die Zeugenschaft gezählt. Ich wurde nicht als Zeugin, aber als Gutachterin aufgerufen. So sucht die Orthodoxie andere Wege, die Zeugenschaft von Frauen mit einzubeziehen. Aber im klassischen Sinne werden Frauen, durch biblisches Gebot, nicht in den klassischen Zeugenstand berufen. Das empfinden viele als Ungerechtigkeit. Hier muss man andere Wege suchen. Über die gutachterliche Tätigkeit wird man genauso akzeptiert und einbezogen wie männliche Zeugen. Viele Frauen erleben das jedoch als fragwürdig. Wir müssen trotzdem versuchen, Interpretationen zu finden und den Talmud nach anderen Interpretationswegen zu durchstöbern. Es gibt auch hier wieder Frauen, die sich daran nicht stören.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dezember 2016/Januar 2017